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Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)

Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)

Titel: Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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sie mein Gesicht wahrnimmt, bewegt sie den Zeigefinger langsam Richtung linke Schläfe. Das wird unsere Geste für die nächsten Wochen, sie ist stumm und bestimmt: »Bitte, eine Kopfmassage.« Mit 133 Zentimeter Körpergröße wurde die 61-Jährige eingeliefert. Jeden Tag scheint sie zu schrumpfen. In ihrer Krankenakte ist unter »Wie infiziert« der dritte Kreis angekreuzt. Weder ungeschützter Sex noch eine dreckige Heroinnadel, dafür: »Unbekannt«. Weiter unten steht: »Nach dem Tode niemanden verständigen.« Der Satz kann verschieden interpretiert werden: Huang hat keine Verwandten oder die Familie will nichts wissen von ihr. Möglich auch: Die Kranke schämt sich ihres Zustands und keiner soll davon erfahren.
    Sacht über die Stirn des Vogelgesichts streichen. Später über Wangen, Kinn, den Nacken. Herausfinden, wie viel Druck Wohlbefinden verschafft und wo der Schmerz anfängt. Ungeschriebenes Gesetz: Eine Massage dauert mindestens 45 Minuten. So haben beide Seiten Zeit, sich aufeinander einzustellen. Keine AOK -Knete mit Stoppuhr, dafür sich beharrlich und ausdauernd auf einen Körperteil nach dem anderen konzentrieren. Irgendwann zahlt die winzige Ex-Schneiderin mit dem Besten, was ein Masseur verlangen kann: Sie schläft ein.
    Wie verschieden Aids seine Opfer zurichtet. Manche haben einen ansehnlichen Körper und sind todkrank, manche sehen aus, als träten sie in den nächsten zehn Minuten ab und leben länger als die Ansehnlichen. Der Tod scheint launisch. Auch wahr: Manche Gesichter werden schöner, je näher sie dem Tod kommen. Die Augen wirken größer, klarer, eindeutiger. Ist das ein Zeichen von Einverständnis?
    Ein paar Schritte von den Krankenbetten entfernt steht ein kleiner Kiosk, mit Kühlschrank. Daneben ein paar Bänke im Schatten. Nach zwei Patienten, nach zwei Massagen ist eine Pause fällig. Um eine eiskalte Flasche Limonade an das schweißgebadete Gesicht zu drücken. Im Sommer ist Regenzeit in Thailand, das Thermometer zeigt 37 Grad, die Luftfeuchtigkeit liegt meist über 85 Prozent.
    Ich lerne Mali kennen, eine junge Japanerin aus Yokohama. Sie hat Vergleichende Literaturwissenschaften studiert und arbeitet ebenfalls als Hilfsmasseurin und Putzfrau im Kloster. Ich werde sie später diskret beobachten und etwas Wichtiges von ihr lernen. Jetzt aber verführt sie zu schallendem Gelächter, weil sie wissen will, ob es stimmt, was sie in einer japanischen Zeitung über die Werbestrategien der Deutschen Bahn gelesen hat: »Wer sich als frisch vermähltes Paar vor dem Eingang eines Bahnhofs küsst, darf umsonst fahren.« Mali wird eine besondere Erfahrung. Oft strahlt sie Heiterkeit aus, so eine bedächtige Power, so etwas gleichschwebend Starkes, das sich nicht irritieren lässt.
    Gefasst einatmen und die dreißig Meter zurückeilen, an den Särgen vorbei, und mit keiner Pore dem Geruch des Elends ausweichen können: einer Mischung aus Urin und Fäkalien, aus Erbrochenem und Darmwinden, die wie träge Stinkbomben von einer Ecke zur anderen wabern. Dazu das Stöhnen, die Hustenanfälle, die Schreie nach Hilfe, die Stimmen der Träumenden, das Stammeln der Schwermütigen, die Monologe der wirr gewordenen Einsamen. Ich schließe die Augen, will eine Ahnung bekommen vom Leben und Sterben hier, Tag für Tag, monatelang, jahrelang. Der Versuch scheitert, man braucht jedes Gramm Energie, um es mit der Gegenwart aufzunehmen.
    Ich komme zur rechten Zeit. Eo, Nuden und Oy, die drei Krankenschwestern, waschen gerade Patienten und reinigen die Betten. Nuden hat sich vorgenommen, keinen Fremden zu schonen, sie zeigt auf Supanchai, der unübersehbar in seinen Exkrementen liegt. Wie vor zwei Stunden, wie wohl in zwei Stunden wieder. Ihr Kopfnicken soll mich ermuntern. Ich zucke und beschließe, einen Tag Anlauf zu nehmen. Auch war ich nie Vater, nie Pfleger, habe keinen Schimmer von Windeln-Aufmachen und Windeln-Zumachen, mutmaße auch, dass es uns allen hilft, wenn man sich erst an ein anonymes Gesicht (meines) gewöhnt. Stellt sich doch wieder die Frage nach der Intimität. Was denkt so ein Mensch, wenn ein Unbekannter ihn auspackt, ihn so hilflos erlebt, ihn an den privatesten Stellen anfasst?
    Ein Zwischenfall kommt mir zu Hilfe: Ein Patient fällt aus dem Bett, das Seitengitter gab nach. Es gibt ein sonderbares Geräusch, wenn ein Knochengerüst auf einem Steinboden landet. Es klirrt, ähnlich Glasröhrchen, die nicht brechen. Ich hieve das Skelett zurück. Das lenkt ab, ab sofort kümmert

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