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Diese alte Sehnsucht Roman

Diese alte Sehnsucht Roman

Titel: Diese alte Sehnsucht Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Russo
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habe zu wenig Vertrauen – in die Welt, in sie, in sich selbst, in ihr gutes Leben –, und darum verstehe er manchmal wichtige Dinge falsch. Auf der Suche nach einem Beweis für die allgemeine Schlechtigkeit der Welt sah er zurück zu Tisch siebzehn und erwartete, den Schlaganfallmann allein und verlassen dort sitzen zu sehen, doch die Eltern des Bräutigams waren gekommen und hatten den ehemaligen Mathematiklehrer ihres Sohnes auf ihre Seite des Zeltes geholt. Griffin konnte nicht sagen, ob die erstarrte Grimasse des Mannes Freude oder Schmerz ausdrückte, und entschied sich willkürlich für das Erstere.
    Auf der Tanzfläche ging es turbulent zu. Alle unter dreißig sangen den Refrain des Songs mit und stießen im Takt trotzige Fäuste in die Luft: »Oh-oh! We’re halfway there! Oh-oh, livin’ on a prayer!«
    Erst halb da. War es das, worauf es hinauslief, fragte sich Griffin und stieß, solidarisch mit den Jüngeren, die Faust in die Luft. War das in diesen langen Monaten, die hinter ihm lagen, der Stein in seinem Schuh gewesen: der Wunsch, noch einmal erst halb da zu sein, wo er sein wollte?
    Später, in der Pension, schliefen Joy und er miteinander. Es war das erste Mal seit einer Weile, und danach hatte sich die Panik, die Griffin nach dem Anruf seiner Mutter überfallen hatte, aufgelöst. Sex hatte immer diese befreiende Wirkung auf ihn, und darüber war er froh, wie auch darüber, dass seine Mutter nicht gerade jetzt noch einmal angerufen hatte. Er nahm sich vor, morgen mit ihr zu sprechen und seine Besuchspläne zu bestätigen. Vielleicht würde er sie sogar fragen, ob sie später im Sommer für ein paar Tage mit ihm aufs Cape fahren wolle. Wie lange war sie nicht mehr hier gewesen? Bestimmt über zehn Jahre. Wenn er sich nicht täuschte, hatte in ihrer Stimme so etwas wie Panik mitgeschwungen, auch wenn sie versucht hatte, es zu verbergen. Warum wollte sie eigentlich wissen, wo er die Asche seines Vaters verstreute? Er hatte sie gefragt, aber natürlich keine Antwort bekommen. Diese Heime für betreutes Wohnen waren der Tisch siebzehn für die Alten – vollkommen Fremde wurden unter einem Dach zusammengebracht, nicht durch Zuneigung, Blutsverwandtschaft oder gemeinsame Interessen, sondern einzig und allein durch die Umstände: fortschreitendes Alter und angeschlagene Gesundheit. Kein Wunder, dass sie wunderlich wurde. Da ihr niemand Paroli bieten konnte, schien sie sich ihr Leben nach Belieben zurechtzubiegen. Na gut. Er hatte keine Einwände. Nur dass sie sein Leben offenbar ebenfalls zurechtbog und von ihm erwartete, dass er sich damit einverstanden erklärte.
    Er sah zu seiner schlafenden Frau und spürte abermals ein beinahe schmerzhaftes Aufwallen von Liebe – wie vorhin, im Festzelt, als Laura mit ihrer Großzügigkeit und Freundlichkeit die Ehe und die Liebe ihrer Eltern bestätigt hatte. Joy war von Natur schamhaft und hielt sich stets bedeckt, aber Sex lockerte sie in dieser Hinsicht immer ein wenig auf. Nackt und wunderschön lag sie neben ihm. Ihre Figur war im Lauf der Jahre runder geworden, aber noch immer gut, und er begehrte sie jetzt sogar mehr als in jüngeren Jahren, und dabei war das sexuelle Erleben damals noch intensiver gewesen. Er sah sie atmen, sah ein Lächeln um ihre Lippen spielen, dessen Grund nur unter anderem war, dass sie miteinander geschlafen hatten. Als sie schließlich aufgebrochen waren, war Laura von ihren Freunden, die sich noch immer auf der Tanzfläche drängten, zu ihnen gekommen und hatte ihrer Mutter ins Ohr geflüstert, dass Andy sie bei jenem ersten Tanz gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wolle. Es verschlug Griffin den Atem, dass seine Tochter sich im Augenblick des größten Glücks an Sunny Kim erinnert und ihn in das Fest einbezogen hatte. Er war sicher, dass er in seinem ganzen bisherigen Leben nichts derart Nobles zustande gebracht hatte.
    Er lag da und glitt dem Schlaf entgegen, als er von nebenan Geräusche hörte, als würde das Kopfteil des Bettes erst leicht, dann aber immer heftiger an die Wand gestoßen. Harold und Marguerite? Er lauschte und glaubte, die Stimme einer Frau zu hören, gedämpft zwar, aber ekstatisch. War es auch nur annähernd möglich, dass Harold einer Frau – irgendeiner Frau – zu einem solchen Höhepunkt verhelfen konnte? Er bezweifelte es. Während des Festes war Griffin zur Toilette ins Hotel gegangen, und dort hatte Harold allein in der winzigen Bar gesessen und sich ein Footballspiel angesehen. Griffin hatte, wie

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