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Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Titel: Diese Dinge geschehen nicht einfach so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Taiye Selasi
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kommen, und dann weint sie, ohne zu lachen, weint nur noch und setzt sich hin. Da, wo sie gerade steht. Sie lässt ihre Tasche fallen, läuft nicht weiter, hat kein Ziel, ist ja fremd hier. Hätte sie noch einen Funken Energie, würde sie wahrscheinlich trotzdem weiterlaufen, würde anfangen zu rennen, in der Erwartung (Hoffnung), dass irgendjemand (ein Mann) ihr folgt – aber sie kann es nicht, ist zu müde, Beine, Körper. Etwas sickert heraus aus dem Zentrum, eine letzte Festung bricht zusammen in ihrem Inneren. Da sitzt sie nun. In der Sonne, auf dem Sand, schwitzend, weinend. So wie man am Strand sitzt. Aber ohne den Pullover des Liebhabers.
    Sie kramt in der Tasche nach ihren American Spirits, zündet sich eine an, raucht sie schnell. Kleine, zitterige Bewegungen. Sie presst die Knie gegen die Brust, um Nähe zu spüren, überwältigt von einem Schmerz, den sie sich nicht richtig erklären kann. Das letzte Mal, dass sie sich so gefühlt hat, war in Boston um Mitternacht, ihr Vater zusammengesunken auf der Couch in seinem OP -Kittel. Das Gefühl, dass die Welt zu offen ist, weit offen, ein Ozean, und ihr Schiff sinkt langsam, nach unten gedrückt von der Scham. Nicht geahnt hat sie damals, dass Fola diejenige sein wird, die alle Stricke durchschneidet und die Rettungsboote losmacht. Oder dass es Fola sein
könnte
. Nicht ein Vater, sondern eine Mutter. Was sie nicht gewusst hat, war, dass Mütter Verrat üben können.
    Und so kommt es dann.
    Der Gedanke, den sie nie gedacht hat.
    Der Gedanke tritt endlich ins Licht, nachdem er viele Jahre am Rand des Bewusstseins zugebracht hat, ein Schatten, der nur ab und zu aufgetaucht ist, um sich sofort wieder zu verstecken, sobald sie sich ihm zuwendet. Dr. Hass sieht es falsch, das denkt sie schon seit einer ganzen Weile: Es ist nicht der Vater. Oder jedenfalls nicht er allein. Es war Fola, die sie und Kehinde in dem Sommer zu Femi geschickt hat, wie zwei gemästete Kälber zum Altar. Nicht er. Wie konnte sie das übersehen? Der Ursprung ihrer Wut, dieser Wut ohne Namen: dass Fola sie weggeschickt hat, dass Fola sie nach Lagos transportieren ließ, obwohl sie es hätte wissen müssen, obwohl sie
garantiert
irgendwie wusste, was passieren würde, sie wusste, wer er war, ihr eigener Bruder, ihre eigene Familie. Wegen der Schulgebühren. Der Gedanke ist da. Dass Mütter Verrat üben. Und was geschieht mit Töchtern, die von ihren Müttern verraten werden?
Sie werden nicht so knuddelig wie Sadie
, denkt Taiwo. Sie werden nicht kicherig und bezaubernd wie Ling. Sie bekommen einen Panzer. Werden hart. Sie hören auf, Mädchen zu sein. Obwohl sie aussehen wie Mädchen und sich wie Mädchen benehmen und wie Mädchen flirten und wie Mädchen küssen – aber in Wirklichkeit sind sie Generäle, Befehlshaber im Krieg, die beim ersten Tageslicht aufbrechen, um weiteren Angriffen zuvorzukommen. Mit einer Armee hinter sich, ihre Talente sind ihre Reiterschwadrone, alles wird in die Schlacht geschickt, ihre Intelligenz und Schönheit und was sie sonst noch zur Verfügung haben, um die Burg einzunehmen, um die Ehre wiederherzustellen. Natürlich funktioniert das nicht. Denn auf der Suche nach der Sicherheit, die sie verloren haben, brennen sie das Dorf ab, jedes Mal, das weiß Taiwo. Am Ende sind sie einsam. Begehrt und bewundert und allein in ihrem Zelt, wo sie die ganze Nacht weinen. Am Morgen reiten sie los. Die Jungen sehen sie kommen und denken: Mann, was für ein geniales Mädchen. Herzen werden gebrochen, Blut wird vergossen. Sie reiten weiter, sinnen auf Rache. Es ist eine seltsame Verdrehung im Handlungsschema, dass die Rache, die sie suchen, die Liebe eines mutterähnlichen Geliebten ist, der sie nicht verraten wird. Bei dem Gedanken lacht sie wieder. Ihr Liebhaber, sein Schal und seine Jogginghose, sein mütterliches Lächeln. Und seine Frau und seine Kinder. Der Verrat schon mit eingeplant. Alles steht von vornherein fest. »Marissa, vielen Dank.«
Ende der Szene
.
    Sie starrt auf das Wasser, ihr Blick verschwommen, weil sie alles so deutlich sieht, und sie weiß nicht, was sie jetzt tun oder denken soll. (Als sie das erste Mal etwas hört, dringt ihr Name nicht bis zu ihr durch.) Sie zündet sich noch eine Zigarette an. Sie raucht diese eine langsam. Die Sonne brennt auf Schultern und Rücken, was eine Art Trost ist, eine Erinnerung an ihre Haut, eine Erinnerung daran, dass es auch Schmerzen in einer anderen Dimension gibt, außerhalb ihres Inneren, außerhalb dieses

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