Diese eine Woche im November (German Edition)
So manchen von ihnen hat er damit schon zur Strecke gebracht.
Er hat nicht die Illusion, dass er allein das System in die Knie zwingen könnte. Er will es schwächen. Zusammenbrechen wird es eines Tages von selbst. Man könnte Rinaldo einen Robin Hood im Globalisierungszeitalter nennen. Den Abzockern fügt er Schaden zu und hilft den normalen Leuten.
In der Lagunenstadt verfährt er genauso. Wer sich Venedig leisten kann, ein schickes Hotel, die überteuerten Restaurantpreise, wer Spaß daran hat, in den Luxusboutiquen um den Markusplatz zu shoppen, der ist ein Begünstigter. Rinaldo hat keine Skrupel, die Begünstigten zu bestehlen. Er nimmt ihnen ihr Plastik ab und erleichtert sie um den Kreditrahmen ihrer Karte. Das Geld fließt in einen seiner Fonds. Über Wohltätigkeit spricht Rinaldo nicht, sie spricht für ihn. Es gibt ein kleines Krankenhaus in Venedig, wo Mittellose umsonst behandelt werden. Es gibt ein Obdachlosenheim und ein Haus für Kinder.
Das ist der dunkle Punkt seines Systems – Kinder. Auch wenn er die virtuelle Welt bis in ihre letzten Winkel durchleuchtet, braucht er Außenposten, die ihn mit der Realität in Verbindung bringen. Er fand sie nicht unter anderen Computerspezialisten, auch nicht in der Verbrecherwelt. Er findet sie dort, wo Menschen Hilfe brauchen. Er benutzt Kinder als Arbeitsbienen. Oft wirft er sich vor, dass er ihnen damit einen trügerischen Weg zeigt, auf dem sie ihr Leben verpfuschen. Er beschwichtigt sich damit, dass es nicht für immer sein wird. Dass die Kinder auch ohne ihn auf die schiefe Bahn geraten wären. So wie Tonio.
Wenn einem Vater und Mutter fehlen, ist die Welt da draußen kaum zu begreifen. Wer ohne Familie aufwächst, hat keine Perspektive. Rinaldo gab Tonio eine Perspektive. Leider ist sie verzerrt, da sie ihm vorgaukelt, dass man sich im Leben alles nehmen kann. Rinaldos Weg machte ihn härter und ließ ihn das Leben im wahren Licht erkennen. Aber es nahm ihm den Zauber einer unbeschwerten Jugend. Dafür schämt sich Rinaldo.
Er fühlt es kommen. Der Druck auf seiner Brust, das Brennen, stärker als sonst. Die Pillendose ist leer. Panik durchfährt ihn. Die alte Schmiede ist riesig, er hat das Bad ans hintere Ende verbannt. Bis dorthin sind es 40 Schritte. Normalerweise leicht zu schaffen, doch nicht, wenn ein Herz so schrecklich schwach ist. Rinaldo steht vom Sofa auf. Das funktioniert ganz gut. Vielleicht war es nur falscher Alarm. Nicht schlappmachen, alte Pumpe.
Er versucht die ersten Schritte. Der Schmerz beißt zu. Der Schmerz übernimmt die Macht. Wer stöhnt da, wer wimmert wie ein Kind? Rinaldo ist es. Rinaldo krümmt sich. Rinaldo schafft es nicht weiter als bis zur Säule. Die erste von drei Säulen, hinter denen das Bad liegt. Die Säule ist aus Backstein, man hat sie rund gemauert. Eine schöne Arbeit. Er starrt die Ziegel an, atmet ein und aus, dann setzt er seinen Weg fort. Noch 30 Schritte, ihm erscheint es meilenweit. Das linke Bein nach vorn, gut so, das rechte nachziehen. Er braucht etwas zum Festhalten. Wie wäre es mit dem Bücherständer, mitten im Raum, er lässt sich rollen. Rinaldo mag es, seine Bücher überallhin mitzunehmen. Als er sich festklammert, rollt der Ständer davon. Samt dem Drahtgestell geht Rinaldo zu Boden. Die Bücher, die Cover, die aufgeschlagenen Seiten. Rinaldo liest viel, es lenkt ihn von der Welt des Screens ab. Wer sich nicht nach draußen wagt, braucht eine Welt im Innern.
Hoch mit dir, denkt er, oder willst du zwischen Bücherbergen liegen bleiben? Das wäre doch gelacht! Auf die Füße schafft er es nicht mehr. Dann eben kriechend, wie ein Reptil, ein entsetzlich langsames Reptil. Er könnte über sich lachen, wenn ihm nicht die Luft dazu fehlen würde. Er lässt die Zunge raushängen, wie ein Ertrinkender hebt er den Kopf. Die zweite Säule hat er hinter sich. Die verheißungsvolle Tür wirkt so nah. Und das Herz schlägt immer noch. Gute alte Pumpe. Wer nicht kriechen kann, muss seinen Körper weiterschleifen. Mit den Armen zieht er sich über den Beton. Sein Körper versagt ihm jede Mithilfe. Verdammter Klumpen, lass dich nicht bitten!
Seine Fingerspitzen berühren ein Hindernis, das muss die Schwelle sein. Er hat das gelobte Land erreicht, sein Badezimmer. Der Wille besiegt das Fleisch. Verschwommen erkennt er den Badezimmerschrank. Wie um Himmels willen soll ein sterbendes Reptil diese Höhe erreichen? Er lässt den Kopf sinken. Es ist unmöglich zu schaffen.
» Das … wollen wir … mal
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