Diese eine Woche im November (German Edition)
unterhalb des Campanile, ihr Weg huckepack durch die Gassen, als Tonio die durchnässte Julia trug –, sie lächelt. Vielleicht erblüht eine Art von Liebe in einer einzigen Nacht, wächst und erfüllt sich und findet in derselben Nacht auch schon ihr Ende. Und es gibt eine andere Liebe, die Zeit braucht, um mit der Zeit zu reifen. Möglich, dass Julia in Venedig beides erlebt und gesehen hat. Inmitten des Grauens empfindet sie das als Geschenk. Ihre Gedanken verlieren sich. Allmählich merkt sie, dass Angst und Traurigkeit durch das Erlebte kleiner werden. Das Leben meldet sich zurück, Julia freut sich wieder an ihm.
» Pippa ist bestimmt durchgekommen. « Sie setzt sich auf.
Tonio schaut zu ihr hoch. » Wenn du recht hättest, Julia – ach, wenn du nur recht hättest! «
36
P ippa will aufstehen. Sie kann nicht. Die Arme wollen sich nicht aufstützen, die Beine nicht stehen. Schwerfällig heben und senken sich ihre Lungen. Sie hat zu viel von dem beißenden schwarzen Rauch abgekriegt, der im verbrennenden Müll freigesetzt wird. Gift und Dreck musste Pippa einatmen. Das keucht und pfeift aus ihrem Inneren. Sie will ja atmen, einsaugen will sie die Luft, aber die Instrumente streiken.
Da kommt er gefahren. Er will abladen, das ist seine Aufgabe. Pippa kann den anrollenden Müllwagen sehen, doch als Retter willkommen heißen kann sie ihn nicht. Sie liegt im Schmutz. Was die Menschen Tag für Tag wegwerfen, ist Pippas Bett geworden. Vielleicht sogar ihr Grab. Auch die Hände hat es arg erwischt. Bis jetzt unterliegt der Schmerz noch dem Schock und der Macht des Adrenalins, das Pippa half, der Hölle zu entkommen.
Mit Turnschuhen rennt man nicht auf glühendem Metall. Pippa hatte keine Wahl. In ihrem Rücken hörte, spürte sie die Flammen erwachen. Während sie puren Tod einatmete, während die unfassbare Hitze ihr fast die Sinne raubte, konnte sie nur dastehen und warten. Sie starrte hinauf und hoffte, dass sich der Trichter endlich öffnen, dass neuer Müll auf den Rost fallen würde. Ihr Stehen wurde zu einem Tanz. Die Hitze fraß sich durch ihre Schuhe, fraß die Sohlen auf. Das rüttelnde Blech rückte Pippa von ihrem Standpunkt weg. Sie sprang und zappelte, während Ohnmacht sie fast überwältigte.
Da öffnete sich der Schlund über ihr und erbrach Abfall jeglicher Art. Man kann den Italienern vieles zugutehalten, Vorreiter in Sachen Mülltrennung sind sie nicht. Was zum Abfall kommt, soll möglichst schnell verschwinden, lautet die italienische Philosophie. Unsortiert ergossen sich verwesendes Gemüse, Joghurtbecher, Pappe, sogar Schrott auf Pippa. Sie bedeckte den Kopf, so gut es ging, trotzdem kam es einer Steinigung gleich. Bald stand sie hüfttief im Unrat. Zog und arbeitete sich hervor, kletterte auf den Müllhügel, sprang hoch und erreichte den Rand des Trichters. Ein weiterer Schwall Abfall riss sie erneut in die Tiefe. Der glühende Rost drohte sie fortzurütteln. Sie erkannte, dass sich der Trichter wieder schloss, und sprang ein zweites Mal. Nur ihrem schmalen Körper verdankt Pippa, dass sie im letzten Moment in den Schlund klettern konnte. Ein schlimmerer Gestank ist nicht vorstellbar. Pippa war egal, was sie da roch, sie wollte Tageslicht, Luft und Freiheit.
Jetzt zahlt sie den Preis für ihren Irrsinn. Hätte sie in dem Raum mit der Matratze nicht bequemer überlebt? Sie liegt da und kann die einfachsten Dinge nicht mehr tun. Sie kriecht ein Stück, fällt zusammen, ringt nach Luft. Der Müllwagen ist schon ganz nah. Früher einmal war er weiß, jetzt sieht er aus wie der Inhalt, den er transportiert. Er fährt nicht zum Trichtermund, wo Pippa liegt, sondern in eine andere Richtung. Der Müll wird vor der Verfeuerung mit geschreddertem, leicht entflammbarem Kunststoff versetzt.
Der Müllwagen rollt an Pippa vorbei.
Der Müllwagen rollt nicht an Pippa vorbei.
Er stoppt so hart, dass der schwere Aufbau schaukelt und die Räder im Staub weiterrutschen. Möwen fliegen hoch, der bremsende Laster hat sie erschreckt. Die Fahrertür geht auf, ein schwerer Mann klettert steif zu Boden. Der Mann hat seine guten Jahre lange hinter sich. Sein Kopf ist kahl rasiert, ein mächtiger Schnäuzer teilt sein Gesicht in Norden und Süden. Er hat noch gerade so viele Zähne, wie man braucht, um nicht nur Brei zu mümmeln. Violette Ringe rahmen seine Augen ein. Ein kariertes Hemd mit Schweißflecken, die orange Latzhose seiner Zunft trägt er und Stiefel, die vom Säuregehalt im Müll verätzt
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