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Diese eine Woche im November (German Edition)

Diese eine Woche im November (German Edition)

Titel: Diese eine Woche im November (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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Den Leuten aus Chioggia « , antwortet der Zeitungsleser. » Und die rufe ich jetzt an. « Er greift zum Telefon. » Und die Polizei. «
    » Bemühen Sie sich nicht. « Rodolfo trabt los. » Die sind schon unterwegs. «
    » Wo wollen Sie hin? Hey! Hey! «
    Rodolfo ist nicht zu Diskussionen aufgelegt. Während sich der andere lautstark wichtigmacht, rennt Rodolfo die Treppe hoch. Nicht ganz so schnell, wie ihm lieb wäre. Er kommt rasch außer Atem. Viele Jahre lang hat er seinem Körper übel mitgespielt, hat Sachen angestellt, auf die er nicht stolz ist. Im Grunde ist Rodolfo ein umgänglicher Mensch, fröhlich, sogar fürsorglich. Selbst heute fragt er sich noch oft, weshalb Antonia sterben musste. Warum straft Gott eine schöne junge Frau mit einer Krankheit, die sie von innen aushöhlt? Warum lässt er sie ein Kind zur Welt bringen und nimmt dem Kind die Mutter?
    Tonios Geburt sei der Auslöser der Krankheit gewesen, hat man behauptet. Der Kleine kann nichts dafür, das weiß Rodolfo. Aber er kann einfach nicht vergessen, dass der Neugeborene Antonia alle Kraft genommen hat. Quälend langsam welkte sie dahin. In dieser Zeit trank Rodolfo mehr Schnaps, als ihm guttat, nachts kam er immer seltener nach Hause. Drei Jahre dauerte Antonias Prüfung, dann wurde sie endlich erlöst. Nachdem Rodolfo seine Frau auf der Insel San Michele beigesetzt hatte, war er nicht mehr der Gleiche. Er kämpfte mit dem Dämon, meistens war der Dämon stärker. Er befahl ihm, dass Rodolfo seinen kleinen Sohn ans Bett fesselte, wenn er nachts losziehen und saufen wollte. Rodolfo verlor seine Arbeit, die Wohnung und seinen Stolz.
    Als man ihm das verwahrloste Kind wegnahm, war er fast erleichtert. Umso schlimmer, dass der Junge immer wieder zu seinem Vater zurückwollte. Alles, was diese kleine Seele, der man die Mutter genommen hatte, wollte, war sein Vater. Er sollte Familie, Vorbild und Freund in einem für ihn sein. Rodolfo bewältigte die Aufgabe nicht. Je mehr Tonio sich in seine Nähe drängte, desto brutaler stieß er ihn zurück. Es brach ihm fast das Herz. Aber er konnte nicht anders. Er war nicht der wunderbare Mann, den der Junge in ihm sehen wollte. Er war ein Trinker, ehrlos, verschlagen, er wurde sogar zum Dieb. Tief im Geheimen weiß Rodolfo, er selbst hat seinen Sohn zum Dieb gemacht, er und niemand sonst.
    Deshalb rennt der verbrauchte Mann in einem Tempo die Eisentreppe hoch, dass ihm schwindelig wird. Er ringt nach Atem, Schweiß bricht ihm am ganzen Körper aus. Doch wenn er einmal im Leben etwas Gutes für sein Kind tun darf, will er verdammt sein, wenn er es diesmal vermasselt. Er erreicht den oberen Absatz. Zwei schwere Riegel, nur mit Mühe zu bewegen. Selten öffnet jemand diese Tür. Unten telefoniert der Angestellte. Oben geht der Müllmann hinein.
    Er hält die Hand vors Gesicht. Die Hitze ist wie ein Fausthieb. Er starrt in die Tiefe. Unmöglich. Kein Mensch kann lebend diesen Flammenschlund passieren. Rodolfo glaubt einfach nicht, dass Pippa das Feuer überlebte, den Trichter erreichte und durch ihn entkam. Wer da hinuntersteigt, ist tot, denkt er und läuft.
    Gegenüber öffnet sich die Tür. Als wäre der Steg über der Flammengrube eine Flaniermeile, begegnen sich zwei Männer aufeinander zu. Der eine im orangen Outfit, mit schweren Stiefeln, der andere so gut wie nackt. Rodolfo erkennt blaue Boxershorts und einen dunklen Haarschopf. Tonio sieht einen Overall, das karierte Hemd kommt ihm bekannt vor. Der kahle Schädel, das gerötete Gesicht. Tonio bringt seine Wahrnehmung nicht mit der Wirklichkeit in Einklang. Ein Müllmann läuft auf ihn zu. Ein Müllmann passt hierher. Aber nicht sein Vater! Sein Vater passt einfach nicht hierher. Tonio bleibt stehen. Täuschen ihn die Flammengebilde, der Rauch? Verliert er langsam den Verstand?
    » Tonio! « , ruft die heisere, bärige, vertraute Stimme. » Mach schon! « Obwohl der Drache faucht, hört man den Müllmann näher trampeln.
    » Papa? « , flüstert der Junge. Qualm kommt ihm in die Augen. Er blinzelt. » Papa – Papa? «
    Der Müllmann ist nur noch ein paar Schritte entfernt. Der vorgewölbte Bauch, der markante Bart, die großen Hände. Wer könnte diesen Mann verwechseln? Alles ist plötzlich in Tonio wach, das Jetzt und auch das Damals. Das betrunkene Gutenachtlied, das ihm der Vater sang. Der Strick, mit dem er ihn ans Bett fesselte. Sein Lachen und sein Zorn. Die Hand, die auf Tonio einschlug, als er noch kaum laufen konnte. Die Hand, die die

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