Diese Sehnsucht in meinem Herzen
seinen Trumpf ausspielte. „Ich habe Bilder von den beiden dabei.“ Er zog zwei Fotos aus der Hosentasche. „Sie sind zwar ziemlich alt und zerknickt, weil ich sie schon seit Jahren bei mir trage, aber…“ Er reichte ihr die Aufnahmen. „Hier.“
Josey nahm sie vorsichtig entgegen, denn sie wollte die Bilder nicht noch mehr beschädigen. Auf dem ersten war ein lächelnder dunkelhaariger Junge im Grundschulalter zu sehen. Er hatte eine Zahnlücke, und auf seinem T-Shirt war ein blaues Nilpferd abgebildet. Der Junge sah Derek recht ähnlich, aber sicher konnte Josey sich trotzdem nicht sein.
Doch als sie sich das zweite Bild ansah, setzte ihr Herz einen Schlag lang aus, um danach umso heftiger zu klopfen.
Auf diesem Foto blickte ihr ein ernster kleiner Junge entgegen, dessen Blick viel erwachsener wirkte als sein Alter auf dem Foto – zu dem Zeitpunkt musste er etwa sechs gewesen sein. Er saß gerade mit einem Schulbuch am Küchentisch und ärgerte sich offenbar darüber, dass ihn der Fotograf bei der Arbeit störte.
Seine Augen… du liebe Güte, diese Augen! Es waren unendlich tiefgründige, wissende Augen.
Dieselben Augen, in die Josey die ganze letzte Nacht geblickt hatte? Dieselben Augen, mit denen er sie heute Morgen betrachtet hatte, als er ihr sagte, wie schön er sie fand?
War es denn möglich, dass Nate sie angelogen hatte? Andererseits hatte er ihr auch nichts Ausführliches über seine Kindheit erzählt, er hatte sich immer sehr zurückgehalten, sobald das Thema zur Sprache kam. Und Josey hatte sich gedacht, dass es bestimmt nicht besonders angenehm für ihn war, über den Tod seiner Eltern zu sprechen. Nun fiel ihr auch wieder Dereks seltsame Reaktion darauf ein, dass beide Eltern laut Nate gestorben waren.
Josey war voller Mitgefühl für die Bennington-Kinder, deren Mutter sich das Leben genommen hatte. Aber warum waren sie bloß vor dem Mann davongelaufen, der sie hätte trösten können, der dafür hätte sorgen können, dass sie eine Familie blieben?
„Warum haben die beiden Ihnen die Schuld gegeben?“ platzte es aus Josey heraus, ohne dass sie darüber nachgedacht hätte.
„Ach, sie waren ja noch Kinder. Teenager. Als Derek achtzehn wurde, hat er Nate einfach mitgenommen.“
„Haben Sie denn gar nicht nach ihnen gesucht?“
„Doch, aber irgendwie habe ich immer daran geglaubt, dass sie eines Tages von selbst zurückkommen würden. Schließlich waren sie immer sehr kluge, vernünftige Jungen. Vielleicht hätte ich intensiver nach Nate suchen sollen, aber irgendwie war ich mir sicher, dass Derek gut auf ihn aufpassen würde.“
„Bloß weil die beiden auf sich selbst aufpassen konnten, heißt das doch noch lange nicht, dass sie nicht trotzdem ihren Vater gebraucht haben“, wandte Josey ein.
„Ja, ich weiß.“ Eine Träne lief Jonathan über die Wange, und er rieb sie mit dem Handrücken weg. Trotz aller Vorbehalte diesem Mann gegenüber fühlte Josey mit ihm. „Ich habe alles verdorben“, gab er zu. „Und dadurch habe ich alle verloren, die ich geliebt habe, verstehen Sie? Aber ich will meine Söhne endlich wiedersehen.“
Vielleicht sagt er ja die Wahrheit, dachte Josey. Vielleicht ist er wirklich der Vater von Nate und Derek. Und nun, da sie seine sorgenerfüllten Gesichtszüge genauer betrachtete, entdeckte sie immer mehr Ähnlichkeiten. „Mr. Bennington, ich…“
„Bennington? Ach…“, unterbrach er sie, und nun sah er sogar noch trauriger aus als vorher. „Das war der Nachname meiner Frau. Derek und Nate haben ihn offenbar angenommen, nachdem sie weggelaufen sind.“ Er hielt inne, und Josey dachte schon, er würde gar nicht mehr weitersprechen. Doch schließlich sagte er: „Mein Name ist Simmons. Jonathan Simmons.“
„Dann heißen die beiden also eigentlich Nate und Derek Simmons?“ Josey überlegte eine Zeit lang. „Aber wie haben Sie sie denn dann überhaupt ausfindig gemacht?“
„Ich habe einen Artikel über Nate in der Zeitung entdeckt, und als ich seinen Namen sah, wusste ich gleich, dass er das sein musste. Und dann… habe ich seine Adresse herausgefunden. Heute Morgen habe ich auf der anderen Straßenseite gewartet, um zu sehen, ob ich ihn wiedererkennen würde. Natürlich habe ich das. Natürlich erkenne ich meinen Sohn. Selbst aus dieser Entfernung.“
„Natürlich.“ Josey hatte keine Ahnung, was sie als Nächstes tun sollte. Sollte sie jetzt sofort Nate benachrichtigen? Nein, sie wollte ihn nicht aufregen, während er noch im Büro
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