Dieser graue Geist
Augen ein sichtbarer Beweis ihres emotionalen Leids. Wenn schon die sanfte Dizhei derart unter der Situation litt, wollte sich Charivretha nicht einmal vorstellen, wozu die launige Thriss in der Lage sein mochte. Ein Fehltritt, und Shars Zukunft stand auf dem Spiel. Der Einsatz konnte kaum höher sein. Ob alle Zhaveys so etwas durchmachen …?
So sehr sie die Ehre zu schätzen wusste, die mit Shars Bündniskompatibilität einherging, ertappte Charivretha sich abermals bei dem Wunsch, seine DNA hätte zu jemandem, der weniger unbeständig war als Shathrissía zh’Cheen, gepasst. Thriss’ für andorianische Verhältnisse unnatürlich schlanke Statur passte zu Shars Interesse an allem Unkonventionellen. Shar mochte Einzigartigkeit, wählte stets den weniger betretenen Weg, und Thriss verkörperte diese Neigung. Er und sie brachten das Beste und Schlechteste aneinander zum Vorschein. Als Charivretha Thriss erstmals begegnete, der dürren, großäugigen Siebenjährigen von damals, hatte sie nicht ahnen können, welche Urgewalt da in ihr Leben steuerte.
Das war während Shars Abstammungslehren gewesen. Die Schüler hatten antike Festtänze gelernt, von denen sie einen bei der Zeit des Bewusstseins aufführen sollten. Charivretha hatte in der Klasse ihres Cheis gesessen und sich an ihre eigene Bewusstseinszeremonie erinnert gefühlt – die Feierlichkeit, die auf die Verkündung der Namen ihrer Bündnispartner gefolgt war. Ihr ganzes Leben war in jenen Stunden neu definiert worden, und während sie ihren Chei und seine Klassenkameraden, darunter Thriss, beobachtet hatte, war Charivretha ihre eigene Vorfreude auf diesen Tag wieder in den Sinn gekommen.
Und sie hatte gemerkt, wie sehr sich diese schlichte, einfache Thriss von den anderen unterschied. Plötzlich, wie aufs Stichwort, hatte die kleine Thriss ihren Platz im Reigen gefunden, sich auf die Zehen gestellt und ihren Arm derart bezaubernd und grazil über ihren Kopf gelegt, dass Charivretha hatte schlucken müssen. Dutzende kindlicher Augenpaare waren mit einem Mal auf die ätherische Thriss gerichtet gewesen, und jedes Kind hatte sich gefragt, ob sie eines Tages ihm gehören würde.
Die Jahre vergingen. Mehrfach war Thriss für unangemessenes Verhalten im Unterricht getadelt worden – meist für ihre Wutausbrüche –, doch ihre Kameraden mochten sie stets, weil sie sich gegen Ungerechtigkeit wehrte wie ein wahrer Volksheld. Jeder in ihrer Klasse schätzte ihre Meinung und sehnte sich nach ihrer Anerkennung, kopierte ihre Frisuren und ahmte ihren Kleidungsstil nach. Einmal organisierte Thriss einen Sitzstreik gegen die Besiedlung von Gebieten, die an den Lebensraum seltener Tiere grenzten, und die halbe Schülerschaft schloss sich ihr an.
Shar nicht.
Shars scheinbares Desinteresse an allem, was mit Shathrissía zusammenhing, hätte Charivretha ein erstes Warnsignal sein müssen. Er empfand anders für sie als für seine anderen Bündnispartner. Nie strebte er Thriss’ Gesellschaft an, nie lud er sie zum gemeinsamen Lernen ein. Damals empfand Charivretha dies als Erleichterung: Wo Thriss war, blieb Ärger nicht fern, und sie war froh, ihren Chei nicht darin verwickelt zu wissen.
Fünf Jahre später wurde ihm Thriss als Bündnispartnerin zugewiesen, und noch immer verweigerte sich Charivretha jeglicher Sorge. Diese Bündnisgruppe war doch stark. Shar vergötterte Dizhei von Anbeginn an – wie alle, die ihr begegneten. Anichent war ihm ein Geistesverwandter, wie es keinen Zweiten geben konnte. Bald schon waren die beiden unzertrennlich, und wann immer Charivretha sie schüchtern Händchen halten sah, wärmte es ihr das Herz, ihren Chei so zärtlich zu erleben.
Shar behandelte Thriss zwar mit Respekt, zeigte aber kein gesteigertes Interesse an ihrer Gesellschaft. Da er dazu neigte, sich den Moden und Trends seiner Altersgenossen zu verweigern, vermutete sie, Thriss’ Popularität halte ihn auf Abstand. Vergeblich versuchte Thriss, ihn zu nennenswerten Reaktionen zu verleiten. Rückblickend erkannte Charivretha, dass er sie wissentlich mied und sich bemühte, nicht die gleichen Kurse, die gleichen außerschulischen Aktivitäten, die gleichen Pausenzeiten zu nutzen. Als seine Zhavey hätte ich sein Verhalten intuitiv durchschauen müssen. Shar ignorierte Thriss, um der immensen Anziehung zu entgehen, die sie auf ihn ausübte! All die Jahre hätte ich nutzen müssen, um die unvermeidliche Explosion zwischen meinem Chei und seiner Geliebten abzumildern! Wenn ich
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