Dieser Kuß veraendert alles
ins Haus kommt, fühlt das ältere Kind sich manchmal als Anhängsel."
"Ja, das kann ich mir vorstellen", sagte er nachdenklich.
Amy strich über seinen Handrücken. "Wie alt warst du, als deine Mutter starb?"
"Zehn." Er wusste nicht, wieso sie ihn das jetzt fragte, aber er wusste, dass ihre Berührung ihn aus der Fassung brachte. "Sie hatte eine Routine-Operation, Gallenblase, glaube ic h, und es gab Komplikationen. Aber ich war fast groß. Es war nicht wie bei Jody, der seinen Dad verloren hat, bevor er..."
"Zehn ist doch nicht ,fast groß'."
"Wenn man auf einer Ranch lebt, ja. Laut Oakie Bain ist man mit zwölf alt genug, um Männerarbeit zu verrichten." Er drehte die Hand, und ihre Finger verschränkten sich wie von selbst.
"Lass Jody Zeit. Wenn er die Pflichten eines Mannes bekommt, wird er bald kein Junge mehr sein."
"Du hattest einen jüngeren Bruder, nicht?" Er starrte ins Feuer. "Ken hat es mir erzählt."
"Hat er dir auch erzählt, was passiert ist?"
"Er hat mir erzählt, dass dein Bruder bei einem Unfall getötet wurde, als er noch jung war. Daran denkst du gerade, nicht?"
"Ich denke an Jody", wehrte Tate ab.
Sie gab nicht auf. "Wie hieß er?"
"Jesse." Seine Stimme wurde distanziert, fremd, verloren.
"Der Name meines Bruders war Jesse. Halbbruder. Oakie war sein Vater, nicht meiner." Genug, dachte er. Nach mehr hat sie nicht gefragt. Aber aus irgendeinem Grund sprach er weiter.
"Jesse war erst neun Jahre alt."
"Was ist passiert?"
"Ich habe ihn beim Zurücksetzen mit dem Traktor überfahren." Verdammter Whiskey. Warum war seine Zunge plötzlich so schwer? "Es war ein 4020er wie deiner, und ich bin damit... über ihn hinweg gefahren." Er hörte, wie sie den Atem anhielt. Mehr Details brauchte sie nicht. "Kenny hat dir bestimmt davon erzählt."
"Nein." Sie drückte seine Hand, und er spürte es bis in die Magengrube. "Kannst du mir davon erzählen?"
"Ich habe es getan. Ich habe ihn umgebracht. Mehr gibt's da nicht zu erzählen."
"Aber es war ein Unfall", sagte sie sanft.
Er starrte in sein Glas. "Unfälle passieren, wenn jemand nicht aufpasst."
"Wie alt warst du?"
"Zwölf." Er seufzte gedehnt. "Ich weiß es noch, als hätte ich es letzte Nacht geträumt. Es läuft von allein ab. Ich will schreien, aber kein Laut kommt heraus. Ich sehe mich, wie ich auf die Bremse trete, ich sehe Oakies Gesicht und wie er mit den Armen wedelt. Was sagt er? Vorwärts? Rückwärts? Und dann, dieses entsetzliche Gefühl, wenn mir klar wird, dass mein Bruder unter dem Reifen liegt."
Er sah es vor sich, in Zeitlupe, zum x-tenmal. Seine Hände zitterten, fanden den Gang nicht. Er sah Oakie nicht kommen, und plötzlich fiel er vom Traktor und sah Jesses braunes Haar und die ausgestreckte Hand und das Blut, und dann vergrub er sein Gesicht im Gras und schmeckte Staub und Tränen und Erbrochenes.
Er fühlte sich unberührbar, wie ein Aussätziger, wie damals an jenem Tag. Er hatte gedacht, sie würden ihn ins Gefängnis werfen, wo er hingehörte. Aber der Sheriff hatte Oakie alle Fragen gestellt, und Oakie hatte die schrecklichen Antworten gegeben. "Stimmt das Junge?" hatte der Sheriff immer wieder gesagt. Tate hatte nur auf seine Hände gestarrt und genickt. Er war wie gelähmt und taub gewesen. Und niemand hatte ihn berührt.
Aber Amy berührte ihn jetzt. Er wusste nicht, was aus seinem Drink geworden war und was er zuletzt gesagt hatte. Plötzlich hielt Amy seine beiden Hände. Er schämte sich dafür, wie heftig sie zitterten. "Gerade eben hatte er noch mit dem gefleckten Welpen gespielt, den er von Oakie bekommen hatte", sagte Tate tonlos. "Und dann lag er unter dem verdammten Reifen."
Sie senkte den Kopf und presste seine Hand an ihre Wange.
"Du hast ihn gesehen, nicht?" flüsterte sie. "Du hast das Blut und die gebrochenen Knochen gesehen, nicht?"
Wie Kenny damals, als sie ihn gefunden hatte. Noch eine Gemeinsamkeit. Sie und Tate hatten denselben Alptraum durchlebt.
"Es war nicht deine Schuld, Tate."
"Woher weißt du das?"
"Du warst erst zwölf", antwortete sie. "S elbst noch, ein Kind.
Du hast deinen Bruder nicht getötet. Es war ein schrecklicher..."
"Unfall", wiederholte er. "Ein entsetzlicher, tragischer Unfall.
Ich hasse das Wort. Ich kann es nicht mehr hören." Er starre wieder ins Feuer. "Der Sheriff meinte, es sei ein Unfall gewesen.
Die Nachbarn, die mit warmem Essen kamen und ihre Hilfe anboten, meinten, es sei ein Unfall gewesen. Oakie hat lange nichts gesagt. Die Kinder in der Schule
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