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Dieser Mann ist leider tot

Dieser Mann ist leider tot

Titel: Dieser Mann ist leider tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bishop
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Cal, daß der hingestreckte Körper seines Dad auf jedes neuerliche Wurfgeschoß nicht mehr wie ein Mann reagiert, der Schmerz empfindet, sondern wie eine Puppe, die bei einer Berührung oder einem Schubs krampfartig zuckt. Was seine Mutter angeht, so kann er sie in dem Berg von Leibern, die da auf der Ladefläche hilflos hin und her rutschen, gar nicht mehr entdecken.
    »Mom, Dad! Mom, Dad!«
    Jemand schlägt ihm mit einem Brett – vielleicht auch mit einem Kanupaddel – quer über den Rücken, und er fliegt bäuchlings auf den Juli-Asphalt, rollt herum und richtet sich auf, um nicht an Ort und Stelle festgenagelt zu werden. Gleichwohl kann ein Mann mit Schutzhelm – ein bulliger Kerl, etwa so alt wie Cal – sich für einen Augenblick rittlings auf ihn setzen, derweil er sein Taschenmesser hervorwühlt, um den Zopf abzuschneiden, der Cal als Abweichler ausgewiesen hat.
    Erst nachdem Cal dem Bauhelm in panischer Flucht entkommen ist, begreift er, was für einen Gefallen der Kerl ihm – in Anbetracht der Stimmung, die in der Stadt herrscht – getan hat. Ohne den Zopf sieht er durchaus respektabel aus, und er kann gehen, wohin er will – ein Cowboy in der Stadt.
    Aber in der Stadt gibt es nichts, wohin er gehen kann. Trockenen Auges, aber gelegentlich das Gesicht mit seinem Taschentuch betupfend, sucht Cal seinen Laster. Dann fährt er auf der I-25 Richtung Waisenberg und Gardner zurück. Unterwegs spürt er, wie der Schmerz aus den Schrammen und Beulen, die man ihm in der Stadt beigebracht hat, herauf sickert; er spürt auch den Beginn des langwährenden Schmerzes, den der gewaltsame Tod seiner Eltern ihm abzwingen wird. Wahrscheinlich für den Rest seines Lebens.
     
    Cal öffnete die Augen und stellte fest, daß die Vision von Miss Emily, Dora Jane und schließlich Royce flüchtige Phantome gewesen waren. Er war allein in der Sattelkammer, kauerte auf allen vieren in der Duschkabine. Seine Augen waren polierte Porzellantassen, leer und trocken. Sein Mund war mit Flanell ausgekleidet.
    Endlich, dachte er. Endlich hast du’s rausgelassen. Lias Mama hat’s mit ihrem Tod für dich gebracht, Cowboy. Jetzt brauchst du nur noch zu weinen.
    Weine.
    Du hast um Philip K. Dick geweint, oder? Um einen Mann, den du nicht mal kanntest. Um einen Typen, den du nur durch seine wunderlichen, aber wunderbaren Bücher kanntest. Und wenn um ihn, warum dann nicht um deine liebenden Eltern? Warum nicht um sie, Calvin?
    Mühsam rappelte Cal sich auf und hob den Zigarettenstummel auf, der auf dem Kachelboden lag. Er riß ihn auf, ließ das unverbrannte Gras in seine Jackentasche rieseln, und lutschte an den Brandblasen an seiner Hand. Es ging nicht an, daß er mit seiner traurigen kleinen Party irgendwelche Spuren in Bruder Jeffs Pferdestall hinterließ. Bruder Jeff würde ihn wahrscheinlich beim Georgia Bureau of Investigation anzeigen.
    Beim Dschie Bie Ei.
    Weine, forderte er sich auf. Weine, Cal, weine! Zum erstenmal, seit du gesehen hast, wie sie starben, hast du die Erfahrung des Verlustes deiner Eltern abreagiert. Es tut weh, verdammt. Es tut höllisch weh. Aber du hast es getan, und das ist gut.
    Damit bist du natürlich noch nicht fertig. Noch nicht. Das hier war eine einsame Abreaktion, ohne Anleitung, ohne Therapeuten, aber zumindest hast du den ersten Schritt unternommen, zu dem Lia dich schon so lange gedrängt hat. Du hast lange Verdrängtes heraufbeschworen. Du bist vom Zustand der Amnesie zum Zustand der Anamnese übergegangen. Was Kai als Amnesieverlust bezeichnet hat.
    Cal betrachtete seine Situation. Er war verwirrt. Abreaktion war einer von Lias psychologischen Fachausdrücken. Er bedeutete die Erinnerung an unterdrücktes emotionales Material und seine kathartische Entladung. Normalerweise erreichte man die Erinnerung und die Entladung mit Hilfe eines ausgebildeten Therapeuten. Wenn man zur Anamnese – Kais Wort – gelangte, war man erst auf halbem Weg. Cal war eben dort hingekommen, aber weiter konnte er allein nicht gehen. Im Moment jedenfalls noch nicht. Wenn er sich des Schmerzes der Erinnerung entledigen wollte – der Übergang von simpler Anamnese zu heilkräftiger Abreaktion –, würde er Hilfe brauchen. Ohne Hilfe, das war ihm klar, würde er niemals um seine Eltern weinen können.
    »Weine, verdammt! Weine!«
    Nichts geschah.
    Frustriert schlug Cal gegen die Kacheln der Duschkabine. Dann packte er den Duschkopf und drehte ihn so, daß er wie eine Pistolenmündung auf ihn herabzielte. Mit den

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