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Dieser Mann ist leider tot

Dieser Mann ist leider tot

Titel: Dieser Mann ist leider tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bishop
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Zustimmung gewesen –, aber diese Wendung in ihrem Gespräch machte ihr Angst. Die Wände hatten Ohren. Wenn nicht Ohren, dann Wanzen. Zu oft hatten die Wände Wanzen, und eine rätselhafte Person wie Kai mit seiner naiven Tollkühnheit, schlecht über King Richard zu sprechen – tja, Kai war genau die Sorte Mann, die sich auf mysteriöse Weise – puff! – in Luft auflöste und dabei jeden mitnahm, der das Unglück gehabt hatte, die Schmähreden mitanzuhören, die Anlaß seiner Beseitigung gewesen waren. Ja, möglicherweise hatte man bereits feindselige Aktionen gegen ihn unternommen, Aktionen, die zu dieser radikalen, wenn auch unvollständigen Amnesie geführt hatten. Andererseits – warum sollte er angesichts feindseliger Behörden noch eine Brieftasche voller Geld besitzen?
    »Was hat Sie zu mir geführt?«
    »Als ich vom ›Little White House‹ zurückkam, fing mein Taxifahrer an, die Schilder laut vorzulesen. Er las auch Ihres. Ich ließ ihn anhalten.«
    Mein Schild, dachte Lia. Ich habe tatsächlich einen Kunden mit meinem Schild ergattert. Werbung zahlt sich aus.
    »Ich meinte, sind Sie wegen Ihrer Amnesie gekommen? Sie scheinen mir Ihren Gedächtnisverlust einigermaßen geringschätzig zu behandeln. Deshalb frage ich mich, ob da vielleicht noch etwas nicht stimmt – ein Schuldgefühl, eine Neurose, ein ganzer Komplex von Problemen vielleicht.«
    »Alle meine Probleme sind komplex, Dr. Bonner.« Kai griff nach seiner Tasse und nahm einen kleinen Schluck Kaffee. »Aber, hey – Sie sind ziemlich scharfsinnig, wissen Sie das? Ich bin nicht wegen der Amnesie gekommen. Ich bin gekommen, weil mir sogar in dieser reizenden Stadt schrecklich unwohl – einfach schrecklich unwohl – mit meinem und überhaupt jedermanns Platz in dieser häßlichen, unwirklichen, beschissenen Realität ist.«
    »Jetzt kann ich Ihnen nicht folgen.«
    »Ich bin hier fehl am Platze, Doktor. Aber das ist okay. Sie sind es auch. Jeder ist hier fehl am Platze. Nicht okay ist die Tatsache, daß wir auf dem Arsch sitzen und es hinnehmen, es immer weiter so laufen lassen.«
    »Was hinnehmen? Was laufen lassen?«
    »Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären. Ich sehe diese Realität unter dem Aspekt einer anderen Realität. Die eine sitzt auf der anderen. Ich nenne das Stereographie: Man bringt zwei verschiedene Bilder zusammen und macht daraus ein einziges Bild, ein neues Bild. Sie sehen nur das Bild, mit dem das zweite verschmelzen, das es irgendwann beiseiteschieben will. Aber ich sehe das Bild, das schiebt. Ich bin in Ihrem Bild, in Ihrer Realität, aber ich sehe – stereographisch – die Welt, die diese ersetzen und tilgen will.«
    Na, dachte Lia, ich hatte ja schon ein paar Komische hier – die Frau zum Beispiel, die glaubte, sie könne bösartige Röntgenstrahlen aus der Sowjetunion mit einem versilberten Suppenlöffel ablenken, oder den Teenager, der sich einbildete, er sei mit Shackleton durch die Antarktis gereist. Aber Kai schlägt sie alle. Er klingt beinahe vernünftig, aber er hat eine Phantasiewelt konstruiert, die ihm ermöglicht, simultan in beiden Dimensionen zu operieren, in der profanen und in der illusionalen, als habe er eine fast gottähnliche Fähigkeit, sie beide zu umspannen und vielleicht sogar miteinander zu versöhnen. Nimm die Amnesie dazu, und du hast eine Fallstudie fürs Lehrbuch.
    »Kai, Sie leiden an einer Art Entfremdung. Das kann auf Ihre Amnesie zurückzuführen sein. Nehmen Sie aber nicht an, daß jeder diese ›Realität‹ so distanziert und fremdartig empfindet wie Sie.«
    »Wer sagt, daß ich es annehme? Ich nehme das Gegenteil an. Und es macht mich wütend, daß jeder hier anscheinend schläft, statt zu merken, daß es nötig ist, die bessere Welt an die Stelle der schlechteren treten zu lassen, die hier auf uns hockt wie eine giftige Kröte.«
    »Andere sehen diese sogenannte bessere Welt vielleicht nicht einmal, Kai.«
    »Sie wollen sie nicht sehen. Genau deshalb will ich am liebsten über die Barrikade springen und jemandem eine Granate hinten reinschieben.«
    Wut neben der Amnesie, starke Gewaltgelüste, die seine illusorische Binokularvision der Welt begleiten und intensivieren. Du wirst ihm nochmals empfehlen müssen, einen Arzt aufzusuchen, Lia. Vielleicht hat er zu hohen Blutdruck, vielleicht droht eine epileptische Episode oder ein Hirnschlag. Du willst doch nicht, daß er dir hier stirbt, oder? Du würdest den Behörden nicht mal helfen können, dem Leichnam einen Namen

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