"Dieser Weg wird kein leichter sein,,,": Mein Leben und ich (German Edition)
HSV. Für die meisten Radio- und Fernsehkommentatoren war die Meisterschaft für uns entschieden. Auch wir auf dem Platz bekamen jetzt das Tor der Hamburger mit und schauten uns gegenseitig fast ungläubig an: Wir sind Meister!
Dann der Abpfiff auf Schalke, es gibt kein Halten mehr für die Fans. Die Anhänger stürmen den Platz, Huub Stevens winkt uns in Richtung Kabine. Die meisten machen sich auf den Weg dahin. Andy Möller gibt schon mal ein Meisterinterview, ein Premiere -Reporter hat ihm dabei die Meisterschaft bestätigt. Auf dem Weg in die Kabine bekommen wir Bier in die Hand gedrückt und ich trinke schon mal einen Schluck. In der Kabine selbst ist es unruhig, auch weil in der Trainerkabine der Fernseher läuft und sich eine Traube von Spielern und Betreuern darum geschart hat. »Das Spiel in Hamburg läuft noch!«, ruft mir einer zu. Ich denke noch, das gibt es doch nicht, da pfeift Schiedsrichter Merck einen Freistoß für die Bayern im Strafraum des HSV. Ausgerechnet der Ex-Schalker Matthias Schober im Tor des HSV hat einen Rückpass mit der Hand aufgenommen. Indirekter Freistoß! Ich wende mich vom Bildschirm ab, kann gar nicht hinschauen. Einen Bruchteil eines Moments später fliegen Flaschen. Bayern trifft durch Anderson zum 1:1, das Spiel in Hamburg wird nicht wieder angepfiffen. München ist Meister.
Augenblicklich war es ruhig, in der Kabine sprach niemand mehr, einige weinten. Sie war gespenstisch, diese Stille. Gerade noch träumst du von der größten Feier deines Lebens und plötzlich wird diese zur Trauerfeier. Wir zogen uns um und gingen auf die Tribüne, ich sah Fans auf dem Rasen, Familienväter mit Kindern, die weinten. Auch Rudi Assauer, Mike Büskens ließen ihren Tränen freien Lauf. Fast alle Zuschauer waren noch da und sangen nach dem Schock der Mannschaft »You’ll never walk alone«. Wer jemals daran glaubte, dass der Fußball emotionslos und kalt geworden ist, wurde in diesen Minuten eines Besseren belehrt. Schalke war Vizemeister und für die Fans »Meister der Herzen«. Vielleicht hat dieses traumatische Erlebnis Fans und Verein damals noch stärker zusammengeschweißt als eine mögliche Meisterschaft.
Warum ich nicht geweint habe
Oft wurde mir die Frage gestellt, warum ich nicht geweint habe an diesem Tag. Denn auch als wir uns geraume Zeit nach dem Spiel in der Geschäftsstelle trafen und die Fans uns immer noch feierten, war ich traurig, aber Tränen waren nicht sofort geflossen. Die kamen lange nachher, auf dem Weg zum ersten Spiel im Nationalteam. Da merkte ich, wie belastend dieses Jahr und auch dieses »Endspiel« um die Meisterschaft für mich gewesen waren. Ich bin ein Emotionssammler, wenn man so will: Irgendwann kommt raus, was raus muss. Meine Frau Linda bekam meine plötzlichen Tränen mit und wusste erst gar nicht, was los war. Ich saß da und heulte.
Eine ähnliche Situation gab es auch in der Familie. Sie wissen ja inzwischen, dass ich bei der Oma aufgewachsen bin. Sie hatte ein großes Herz und so gab es immer wieder neue Familienmitglieder. Eines Tages nahm sie »Sister Afia« auf. So habe ich sie jedenfalls immer genannt, obwohl sie nicht mit mir verwandt war. Afia gehörte also eines Tages zur Familie meiner Oma und begleitete mich durch meine Kindheit. Sie war ein guter Geist und immer für mich da. Ihr habe ich vertraut. Obwohl ich ein kleines dickes Kind war, wollte ich nur von ihr getragen werden. Sie hat das mit Hingabe gemeistert. So wie sie meine »Lieblingstante« war, war ich ihr Lieblingskind. Selbst wenn meine Mutter in Ghana zu Besuch war, sollte Sister Afia immer dabei sein, was meine Mama damals manchmal schon etwas eifersüchtig machte. Auch meine Frau Linda hat sie ins Herz geschlossen. Immer wenn wir in Ghana waren, hat sie bei uns gelebt, für uns gekocht. Eine gute Seele!
Im Jahr 2001 starb sie ganz plötzlich, obwohl sie gar nicht krank war. Linda bekam den Anruf und alle Mitglieder der Familie hatten Angst, mir das mitzuteilen, weil sie wussten, wie sehr ich an ihr hing. Als meine Frau mir dann von dem Todesfall erzählte, blieb ich cool, habe gar nicht so reagiert, wie alle es von mir erwartet hatten. Erst später, als ich wieder nach Ghana fuhr, merkte ich plötzlich: Sie ist tatsächlich nicht mehr da. Sie holte uns nicht vom Flughafen ab, sie war nicht bei uns zu Hause, sie lachte nicht mit mir. Sie war und blieb verschwunden. Da weinte ich. Der Verlust war Realität geworden. Und irgendwann hat mein Herz darauf reagiert.
Und so
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