Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen (German Edition)
brachte. Zur Auswahl standen Diamonds von Rihanna (mein aktuelles Lieblingslied) und Ich wollte nie erwachsen sein von Peter Maffay (mein Lieblingslied von allen Lieblingsliedern). Ich entschied mich für Peter Maffay. Mama hatte mir auch schon den Text ausgedruckt, damit ich üben konnte. Ich wollte ja, dass mein Lied am Ende schön klingt. Und dazu brauchte ich all meine Kraft.
Als der Weihnachtsmann meinen Namen rief, musste ich mich erst wieder zurechtfinden, weil meine Gedanken ja schon in Berlin waren. Ich stand langsam auf und ging vorsichtig zu ihm. Er überreichte mir ein Paket, auf dem »Für Daniel« stand. Ich packte es aus, ein Gesellschaftsspiel: Was ist Was? Das kannte ich aus der Schule. Obwohl es für Kinder ab acht Jahre geeignet ist, weiß ich fast nie eine Antwort. Deswegen mag ich das Spiel nicht. Mama meinte, ich müsse mich trotzdem beim Weihnachtsmann bedanken. Ich wollte ihm noch sagen, dass er das Spiel anderen Kindern nicht zu schenken brauchte, weil es ja so schwer sei, aber ich traute mich nicht mehr, mit ihm zu sprechen. Weil er doch der echte Weihnachtsmann war. Dann saß ich ganz lange neben Mama. Irgendwas in meinem Kopf wollte raus, aber es fand den Ausgang nicht. Da ich mich nicht auf zwei Sachen gleichzeitig konzentrieren kann, blieb ich einfach sitzen und wartete. Als ich den Gedanken schließlich zu fassen bekam, fing ich an zu weinen. Mama und Franzi mussten mich in den Arm nehmen, aber ich sagte sofort, dass es Glückstränen waren, die aus mir rauskamen. Ich fand es so schön, dass der echte Weihnachtsmann zu uns gekommen war. Ich brauchte eben meine Zeit, um dieses Glück zu realisieren.
Zu Hause probierten Papa, Mama und ich das Spiel noch einmal in Ruhe aus, aber auch meine Eltern kannten kaum eine Antwort und so landete es in der Abstellkammer. Ich rief schnell Lars über Skype an, um ihm von meinem Tag zu erzählen, aber ich musste mich beeilen, weil unser Lieblingsverein, der FC Bayern, spielte. Es war das letzte Spiel des Jahres. Lars hatte schon sein graues FC-Bayern-T-Shirt mit dem roten Herz an. Ich legte schnell auf, zog ebenfalls mein Bayern-T-Shirt mit dem roten Herz an und rief ihn wieder zurück. Jetzt waren wir nicht nur Brüder, sondern sahen auch so aus. Lars in groß, ich in klein. Als ich uns im Partnerlook sah, war ich glücklich, richtig glücklich und dachte: Wahre Freunde sind nicht die, die du jeden Tag in der Schule siehst, sondern die, die in Gedanken immer bei dir sind und tiefe Fußabdrücke in deinen Träumen hinterlassen. In dieser Nacht schlief ich in meinem Bayern-T-Shirt mit dem roten Herz und alles war gut. Bis der Morgen kam. Und die Erinnerungen.
29
»Wo willst du nach deinem Tod sein«, hatte sie mich mit strengem Blick gefragt, »in der Hölle oder im Himmel, beim Teufel oder bei Gott? Du musst dich sofort entscheiden.«
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, weil ich noch nie davon gehört hatte. Also, dass man sich das aussuchen darf. Ich überlegte und überlegte, aber ich konnte mir das einfach nicht vorstellen. Dann bekam ich Kopfschmerzen und rieb mir die Schläfen. Der liebe Gott kam durch meine Gedanken geflogen, der rote Teufel ritt auf einem Feuerball. Sie standen sich gegenüber, und alles drehte sich. Ich setzte mich auf einen Stuhl und versuchte, Ordnung in meinen Kopf zu schaffen, aber die Oma hörte nicht auf, mich dieses Zeug zu fragen, und als ich die Augen schloss, um sie nicht mehr sehen zu müssen, begann sie laut zu beten.
Überhaupt betete sie sehr oft, eigentlich immer, wenn ich da war. Sie wollte auch oft mit Mama über das Telefon beten. Mama und ich lachten manchmal heimlich darüber, weil die Sachen, die diese Oma sagte, oft ganz eigenartig klangen. Wir durften, wenn wir das Telefon auf Lautsprecher stellten, aber nicht zu laut kichern, weil wir die Oma ja nicht verärgern wollten. Sie war sehr gläubig, also katholisch gläubig. Mama sagt, das nennt man erzkonservativ, aber ich verstehe nicht, was das bedeutet. Es gibt eine Organisation, die einsamen Menschen hilft, nicht mehr einsam zu sein. Diese Oma hatte niemanden mehr, mit dem sie spielen konnte, und weil ich auch oft einsam war, kam meine Mama auf die Idee, dass ich sie einmal in der Woche, jeden Dienstag, besuchen könne. Sie wohnte auch nur eine Busstation von unserem Haus entfernt, was sehr praktisch für mich war. Wir tranken Tee und spielten Spiele, und zum Naschen hatte sie auch immer was im Küchenschrank. Sie war eigentlich ganz
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