Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen (German Edition)
den Ton vom Fernseher an, weil ich sah, dass Duck Tales lief. Als der Arzt endlich weg war, rief Mama sofort Lars an, um ihm davon erzählen. Mama war auf hundertachtzig. Ich war zwar immer noch etwas traurig, weil der Arzt so gemein zu Mama war, aber dafür kam Papa jetzt mit dem Auto vorbei, um uns abzuholen. Es gab nämlich auch eine gute Nachricht: Ich durfte wieder nach Hause. Die Reise nach Berlin war gerettet. Also, falls in den nächsten fünf Tagen nichts mehr mit mir passierte.
Zu Hause angekommen, hockte ich mich im Wohnzimmer sofort vor das Sofa und spielte auf der Wii. Papa hatte mir zur Feier des Tages ein Bierglas vom FC Bayern München geschenkt, und ich durfte ein alkoholfreies Bier trinken. Meine Lunge tat immer noch weh. Ich gab mir Mühe, die Schmerzen zu ignorieren, was auch ziemlich gut klappte, weil ich ja wieder ein Ziel vor Augen hatte. Ich rief Lars an.
»Rate mal, aus was für einem Glas ich mein Bier trinke?«
»Hmm, weiß nicht«, überlegte er.
»Rate halt.«
»Glas oder Tasse?«
»Glas.«
»Keine Ahnung.«
»Aus einem FC-Bayern-Glas. Hat mir Papa geschenkt.«
»Hey, wie cool. Tut gut wieder zu Hause zu sein, was?«
»Und wie!«
»Guck mal, Daniel. So schnell kann sich das Blatt wenden. Gestern Abend hast du noch befürchtet, du müsstest bis nächste Woche im Krankenhaus bleiben. Und heute trinkst du Bier aus einem geilen FC-Bayern-Glas, zockst Wii und schläfst später in deinem eigenen Bett ein. So ist das Leben, man weiß nie, was als Nächstes passiert.«
»Ja, das weiß man wirklich nicht.«
»Ein alter Mann hat einmal zu mir gesagt: Nur wer an Wunder glaubt, dem widerfahren auch Wunder. Verstehst du?«
»Nee.«
»Das bedeutet, dass alles möglich ist, wenn man daran glaubt.«
»Was?«
»Hörst du mir überhaupt zu?«
»Wie?«
»Daniel?«
»Tschuldige, aber ich schaue gerade auf den Bildschirm. Lass uns später telefonieren. Ich muss dieses Level jetzt schaffen.«
»Haha, aber du hast mich doch angerufen. Schon vergessen?«
»Was?«
Dann legte Lars auf. Papa saß auf seinem Platz und spielte gegen Mama Monsterworld. Mama saß auch auf ihrem Platz. Sina lag zwischen den beiden auf dem Sofa und spielte mit sich selbst. Rocky versteckte sich im Schlafzimmer. Alles war wie immer.
Am Abend sahen wir zusammen die Nachrichten, und plötzlich war nichts mehr wie immer. In einer kleinen Stadt in Amerika namens Newtown war etwas Schlimmes geschehen. Ein böser Mann hatte in einer Grundschule sechsundzwanzig Menschen mit einem Gewehr erschossen. Und von diesen sechsundzwanzig Menschen waren zwanzig noch Kinder. Mir wurde kalt, und ich bekam Angst. Sie zeigten viele weinende Kinder, die überall Blut im Gesicht hatten, und weinende Eltern, die vor der Schule auf ihre Kinder warteten. Der Nachrichtensprecher sagte, dass diese Eltern zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten, dass ihre Kinder schon längst tot waren. Ich fragte mich, wie sich das wohl anfühlte. Bestimmt war es das schlimmste Gefühl von allen Gefühlen. Genauso wie die Liebe das schönste Gefühl von allen Gefühlen ist.
»Mama?«, fragte ich mit zittriger Stimme.
»Ja, mein Engel?«
»Warum tut ein Mensch so etwas? Nächste Woche ist doch Weihnachten.«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Es ist so schlimm.«
Dann schnäuzte sie in ein Taschentuch.
»Du hast doch mal gesagt, dass nichts auf Welt ohne Grund passiert. Das verstehe ich nicht. Was für einen Sinn hat es, dass diese Kinder jetzt tot sind? Die haben doch nichts Böses gemacht, oder?«
Jetzt fing sie richtig an zu weinen. Wenn meine Mama erst einmal damit anfängt, ist sie nicht mehr zu bremsen. Papa spielte sein Computerspiel. Da ich immer noch Angst hatte, legte ich mich in ihren Schoß, um zu kuscheln. Dann sagte der Mann im Fernsehen, dass der Amokläufer (das war der böse Mann) nicht nur die vielen Kinder, sondern auch noch seine Mutter erschossen hatte. Ich versuchte mir das vorzustellen, aber es ging nicht. Ich würde meine Mama niemals erschießen. Ich habe doch sonst niemanden. Da wäre ich ja schön blöd.
Als die Nachrichten vorbei waren, ging ich in die Küche und stellte mich neben die Mülleimer ans Fenster. Es war schon dunkel draußen, aber durch die Beleuchtung konnte man noch ein bisschen was erkennen. Ich war traurig und glücklich auf einmal. Traurig, wegen den toten Kindern; glücklich, weil mein Bruder gleich kommen würde. Lars kam nämlich immer freitags und heute war ja Freitag. Auf dem Weg, der von
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