Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen (German Edition)
nett und wenn sie nicht pausenlos von diesem Fegefeuer gesprochen hätte, wäre ich bestimmt öfter zu ihr gegangen.
Aber als ich die Augen an jenem Tag wieder öffnete, wurde mir schwindelig und speiübel. Ich hörte die Worte der Oma wie in einer Dauerschleife und wusste keinen besseren Ausweg als zu flüchten. Ich hielt es bei ihr nicht mehr aus. Ich schaffte es, den Weg bis zur Bushaltestelle ganze alleine zu gehen. Normalerweise habe ich Angst, wenn ich alleine bin. Das liegt daran, dass ich dieses Gefühl nicht so gut kenne, weil immer jemand auf mich aufpasst. Zum Glück kam der Bus ziemlich bald, und der Wirbel in meinem Kopf wurde etwas schwächer. Außer Rocky war niemand in unserer Wohnung. Mama und Papa arbeiteten. Ich bekam wieder Angst. Aber das war nicht mein größtes Problem. Ich war so schwach, dass ich kaum die Treppenstufen in den ersten Stock steigen konnte. Ich hielt mich am Geländer fest und setzte ganz langsam einen Fuß vor den nächsten. Völlig erschöpft ließ ich mich aufs Sofa fallen. Alles drehte sich. Ich verlor die Orientierung. Rocky merkte, dass es mir nicht gut ging und legte sich neben mich, um mich zu beschützen und mir Trost zu spenden, aber es half nicht. Katzen haben ja keine Zauberkräfte. Ich wählte die Nummer meines Kinderarztes, die im Telefon eingespeichert war. Ich musste nur auf die Kurzwahltaste 2 drücken. Anne-Marie, die Arzthelferin, die mich sehr gut kannte, beruhigte mich, weil mir die Tränen liefen, und sagte, dass ich meine Beine hochlegen solle. Es sei nichts Schlimmes, nur mein Kreislauf. Es half nicht. Die Angst vor der Dunkelheit wurde immer größer, und da ich eigentlich nicht ohne Aufpasser sein darf, klingelte ich bei unserer Nachbarin Oma Wagner. Oma Wagner ist schon sehr alt, bekommt Essen von einem Krankendienst geliefert und muss ebenfalls oft ins Krankenhaus. Immer wenn der Rettungswagen zu unserem Haus kommt, wissen die Nachbarn, dass sie entweder Oma Wagner oder mich abholen.
Oma Wagner konnte mir auch nicht helfen, aber wenigstens war ich bei ihr nicht mehr alleine. Ich setzte mich in ihr Wohnzimmer und rief Mama an, aber sie musste ja arbeiten und konnte nicht so schnell zu mir kommen. Ich gab mir Mühe, nicht an das Monster zu denken, dessen Nähe ich schon spürte. Es war da, auch wenn es sich versteckte. Dann kam Mama. Als sie mich sah, erschrak sie und hielt sich die Hände vors Gesicht. Sie sagte, ich sehe aus wie der Tod. Ich musste an den Teufel denken, über den die Oma gesprochen hatte. Mama brachte mich in unsere Wohnung und überprüfte hektisch meine Sauerstoffwerte. Sie waren im Keller. Dann rief sie den Notarzt. Blaulicht. Krankenhaus. Untersuchungen. Ärzte kamen. Ärzte gingen. Weinen. Warten. Hoffen. Willkommen in meinem behinderten Leben.
Sie konnten den Grund für meine Schmerzen nicht finden. Mein Herz stand in Flammen, und tief in mir drinnen tat es so schrecklich weh, aber die Ärzte waren anderer Meinung und sagten, dass da nichts wäre. Sie schrieben Mama einen Entlassungsbrief, befanden mich für schulfähig, erhöhten die Dosierung meiner Medikamente und schickten mich nach Hause. Mama arbeitete am nächsten Tag im Café und obwohl ich darum bettelte, im Bett bleiben zu dürfen, musste ich in die Schule gehen. Mama hörte auf diese blöden Ärzte und nicht auf mich, aber ich war nicht böse auf sie. Sie konnte mich ja nicht alleine zu Hause lassen, und in der Schule gab es wenigstens Aufpasser. Es war ein schlimmer Tag, aber ich hielt durch, obwohl ich das Monster sehen konnte. Es war nicht mehr unsichtbar, sondern stand dicht neben mir. Auch am Abend, als ich mich wieder ins Bad schleppte, um Gallensaft zu würgen. Mama hielt mich so lange fest, bis ich nicht mehr konnte. Wir kuschelten auf der Couch. Rocky, der sonst immer sehr ruhig war, lief aufgeregt umher. Ich glaube, er konnte das Monster auch sehen.
»Mama, die verdammten Tabletten bringen mich noch um«, flüsterte ich, weil ich kaum noch Kraft zum Atmen hatte. »Sie helfen nicht. Mama, mir geht’s nicht gut.«
»Du siehst auch wieder ganz komisch aus«, antwortete sie. »Und kalt bist du auch.«
»Mir ist auch kalt«, sagte ich.
Mama brachte mich ins Bett. Sie hielt meine Hand und rief im Krankenhaus an. Rocky und das Monster folgten uns.
»Leute, ich krieg hier die Krise«, sprach Mama ins Telefon. »Ihr schickt meinen Jungen nach Hause, sagt, dass alles okay ist, und jetzt liegt er wieder halbtot in seinem Kinderbett. Seine Sauerstoffwerte
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