Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen (German Edition)
Daniel«, sagte er, »als ich noch klein war, jünger als du, hat mir der Gedanke, einmal nicht mehr am Leben zu sein, große Angst bereitet. Meine Phantasie hat damals noch nicht ausgereicht, um mir auszumalen, dass es nicht nur dieses eine Leben gibt.«
»Ich habe die Angst vor dem Tod schon lange verloren«, sagte ich.
»Echt?«
Lars sah mich ganz komisch an.
»Was ist es dann, was dich so ausflippen lässt?«
»Die Schmerzen. Und wenn es nicht direkt die Schmerzen sind, dann die Erinnerungen an sie. Das ist das Schlimmste.«
»Verstehe«, nickte Lars, der auf einmal abwesend wirkte.
Ich nippte an meinem Energy Drink, aber nur wenig, weil ich erstens nicht so viel auf einmal trinken konnte und zweitens mir den Rest für später aufheben wollte.
Lars sagte: »Eigentlich hat der Schmerz ja auch was Gutes, also ich meine, dass man überhaupt Schmerzen spürt.«
»Was soll das denn heißen?«
»Würde man ihn nicht spüren, hätte er keine Bedeutung. Der Schmerz ist wohl erfunden worden, um uns daran zu erinnern.«
»Und woran?«
»Dass wir noch am Leben sind.«
»Hmm«, überlegte ich laut vor mich hin. Lars hatte recht, aber das wusste ich schon. Wenn man tot war, würde man keine Schmerzen mehr spüren. Genau deswegen hatte ich auch meine Angst zu sterben abgelegt. Genau in dem Moment, als mir das klar wurde.
»Irgendwie ist es auch ein Trost«, sagte ich. »Dass bald alles besser wird, meine ich. Es ist nur so schwer.«
»Ich weiß.«
»Du hast es gut«, sagte ich zu Lars, der sich einen zweiten Espresso bestellte. Anscheinend war er abhängig, so viel wie er davon trank. »Du wohnst in Berlin und kannst alles machen, was du möchtest, ohne um Erlaubnis zu fragen.«
»Das ist einer der wenigen Vorteile, wenn du erwachsen bist.«
»Also, ich finde mein Leben voll langweilig. Bei Berlin – Tag & Nacht ist immer was los und bei mir nie. Das ist so ungerecht. Und wenn ich mir jetzt vorstelle, dass das noch ganz lange so weitergehen würde, also, nee, das wäre ja voll ätzend.«
»Ja, da ist schon was dran«, lächelte Lars und fischte einen Fussel aus meinem Haar. »Man kann das positiv oder negativ sehen. Vielleicht haben viele Menschen ja deswegen so große Angst vor dem Tod und der Ewigkeit, die sich dahinter verbirgt, weil sie fürchten, dort würde der gleiche langweilige Trott für immer weitergehen.«
»Ich weiß, dass es besser wird, Lars. Ich habe es gesehen.«
Lars wollte mich gerade etwas fragen, als Mama anrief.
»Wir sind auch im Mercado«, sagte ich. »Unten, hinter dem Saftstand. Warte, ich winke dir zu. Ja, ich sehe dich.«
Lars stand auf, bezahlte seine Rechnung, und ich wedelte mit meiner Dose direkt vor Mamas Nase herum. Sie war gar nicht sauer deswegen – was mich irritierte – und präsentierte uns stolz ihre frisch gemachten Fingernägel.
»Sieht ja super aus«, lachte Lars, der sich jetzt mit Mama unterhielt, während wir zum Ein-Euro-Laden gingen, weil Mama dort noch einkaufen wollte. Ich konnte hören, wie sie ihm erzählte, dass das unser Laden sei und es mir immer richtig viel Spaß machen würde, dort durch die Regale zu stöbern. Mir fiel es schwer, mich zu konzentrieren. Ich nahm noch einen Schluck aus meiner Dose. Dann ging es wieder.
Bevor wir zurück nach Blankenese fuhren, machten wir einen Abstecher zu Lidl, und Mama kaufte so viel ein, dass Lars nicht nur meine Tasche mit dem Sauerstoffgerät, sondern auch noch zwei volle Einkaufstüten tragen musste. Er mühte sich ganz schön ab, aber er sagte, ihm würde das nichts ausmachen. Im Bus vertrieben wir uns die Zeit mit »Ich sehe was, was du nicht siehst«, und als wir nach Hause kamen, war Papa schon da. Er saß auf dem Sofa und spielte Wii. Mama räumte den Einkauf ein, Lars verkrümelte sich ins Gästezimmer, um sich eine Stunde auszuruhen, und ich begann, meine neuen Sammelkarten zu sortieren. Ich kam nicht weit. Wegen meinen Bauchschmerzen hatte ich meine Morgen-Tabletten noch nicht genommen. Mama fand es heraus und hielt mir deswegen eine ihrer Standpauken. Zum tausendsten Mal musste ich mir anhören, dass ich sterben würde, wenn ich meine Tabletten nicht regelmäßig nähme, aber ich zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Mir egal. Dann sterbe ich eben. Scheiß der Hund drauf!« Mama fing an zu weinen und brüllte mich gleichzeitig an, warum ich immer nur an mich denken würde, und von Papa bekam ich dann auch noch Ärger, weil Mama mich bei ihm verpetzt und ihm von meiner Aktion im Krankenhaus
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