Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen (German Edition)
wegen der 30er-Zone ganz langsam den steilen Berg zum Elbdorf Café hoch und stellten das Auto auf dem Parkplatz ab. Der Friedhof Blankenese lag rechts von uns, und Lars schaute sich ein bisschen um, weil alles neu für ihn war. Ich dagegen rannte sofort ins Café, um Frau Hartmann und Frau Hammerstein zu begrüßen, Mamas nette Chefinnen. Mama brachte gerade einer älteren Dame einen Kaffee an den Tisch und beobachtete mich aus dem Augenwinkel. Das konnte ich genau erkennen. Sie hat nämlich immer Angst, dass ich etwas anstelle. Frau Hartmann und Frau Hammerstein standen hinter der Theke und fragten, ob ich ein Erdbeereis wollte. Eigentlich war ich noch satt von der Portion Spaghetti carbonara, aber ich wusste, dass sie nicht locker lassen würden, also sagte ich: »Gerne«.
Für Lars bestellte ich einen Espresso, ein Glas Sprudelwasser und ein Stück Käse-Mandarinen-Kuchen. Dann setzte ich mich zu ihm nach draußen in die Sonne, und wir schlossen gemeinsam die Augen, um etwas Wärme zu tanken.
Es ist schon komisch. Ich meine das Leben und wie es einem manchmal hilft, wenn man sich traut, im richtigen Moment die richtigen Fragen zu stellen. Mama hatte ja in Deutschland nie gearbeitet. Zum einen, weil hier ihre Ausbildung als Physiotherapeutin, die sie in Südafrika gemacht hatte, nicht anerkannt wurde. Zum anderen natürlich wegen mir. Vor ungefähr einem Jahr merkte ich aber, dass sie immer trauriger wurde. Ihr fiel die Decke auf den Kopf, weil sie sich nur in unserer Wohnung oder bei Ärzten oder in Krankenhäusern aufhielt. Da sie aber nicht in der Lage war, sich selbst etwas zu suchen, musste ich das für sie in die Hand nehmen, und das ging so: Unsere Nachbarin, Oma Wagner, ging damals jeden Sonntag auf den Friedhof, um das Grab ihres Mannes zu besuchen. Wenn ich genug Kraft hatte, begleitete ich sie, damit sie nicht so alleine war. Friedhöfe sind ja sehr traurige Orte, und da ist es immer gut, jemanden zu haben, der einen lieb hat. Nachdem wir die Blumen abgelegt hatten, machten wir immer Halt im Café, um eine Torte oder ein Eis zu essen. Frau Hartmann und Frau Hammerstein kannten mich schon und begrüßten mich jedes Mal mit meinem Namen. Eines Tages fragte ich sie einfach so ins Blaue hinein, ob sie noch jemanden suchen würden, der ihnen beim Servieren oder Brötchenschmieren helfen könnte. Als sie keine richtige Antwort gaben, schwärmte ich ihnen ganz lange von meiner Mama vor, dass sie die beste Mama der Welt sei und dass sie mir jeden Morgen ganz leckere Pausenbrote einpacken würde. Ich sagte: »Meine Mama wird Sie nicht enttäuschen, Frau Hartmann und Frau Hammerstein, das verspreche ich. Für meine Mama lege ich meine Hand ins Feuer – Ehrenwort!« Als ich nachmittags wieder nach Hause kam, erzählte ich Mama von meinem Plan, ihr eine Arbeit zu suchen. Zuerst war sie überrascht, dann war es ihr etwas peinlich, aber am Ende freute sie sich total, denn sie bekam den Job tatsächlich. Erst später merkte ich, was ich damit angerichtet hatte: Noch mehr Friedhofsthemen zu Hause. Na ja, wie sagt Mama immer: »Man kann nicht alles haben im Leben.«
Während meine Gedanken durch die Luft kreisten, lief vorne an der Straße ein Mädchen vorbei. Ich hielt meine Hand vors Gesicht, damit ich sie besser sehen konnte, aber sie war leider alles andere als eine Schönheitskönigin. Ich stieß Lars an der Seite an und sagte: »Guck mal, das Mädchen da vorne. Voll hässlich!«
Lars machte auch den Indianer und antwortete: »Sei nicht so. Da kann sie auch nichts dafür.«
Ich sagte: »Scheiß drauf.«
»Es kommt nicht nur aufs Äußere an«, sagte Lars, der sich wieder mit geschlossenen Augen zurücklehnte. »Es geht auch darum, was dein Herz dir sagt. Das weißt du doch.«
Ich wartete ab, was mein Herz mir sagte und antwortete: »Mein Herz sagt, die ist hässlich.«
Jetzt mussten wir beide lachen. Lars sogar noch lauter als ich.
Die Sonne verschwand allmählich zwischen den Bäumen, und für Lars und mich war es an der Zeit, uns zu verabschieden und weiterzuziehen. Ich wollte noch nicht nach Hause, also fuhren wir noch eine Weile ziellos umher, einen Schotterweg entlang, bis wir irgendwann mitten im Wald vor einer Pferdekoppel standen. Wir stiegen aus, streichelten die süßen Pferdchen, die sofort zu uns kamen, und ich dachte: Wenn ich nur noch eine Stunde zu leben hätte, würde ich mich hier zu diesen Tieren auf die Wiese legen, in den dunkelblauen Himmel schauen und einfach meine Augen
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