Dieses heiß ersehnte Glueck
hätte sich ihm wegen der Stanford-Plantage an den Hals geworfen —, hatte Leah niemals reich werden wollen. Sie hatte nur Geborgenheit gesucht, hatte nur von einem Heim geträumt, wo sie nicht verprügelt und mißhandelt wurde. Auf der Stanford-Plantage war sie zwar vor Prügeln sicher gewesen; aber das empfindliche Porzellan und die kostbaren Seidenkleider, bei denen sie sich so in acht nehmen, die Tischmanieren und Umgangsformen, die sie erst erlernen mußte — das alles hatte sie nervös gemacht.
Diese Stadt bot Sicherheit, verlangte aber keine Förmlichkeiten. Die meisten Leute, denen sie begegnete, verschluckten die Silben und legten keinen Wert auf eine präzise Ausdrucksweise, wie Nicole sie ihr beigebracht hatte. Zuweilen fiel es ihr schwer, sich darauf zu besinnen. Linnet jedoch schien trotz ihres schlichten Baumwollkleides eine Atmosphäre um sich zu verbreiten, die Leah wiederum an Nicole erinnerte.
Linnets Tochter Georgina verlor rasch ihre Schüchternheit. Als sie eine ältere Frau mit Zwillingen sah, rannte sie auf sie zu, um die drei zu begrüßen.
»Das ist Esther, die Mutter von Justin und Oliver«, erklärte Linnet mit einem Anflug von Trauer in der Stimme, als sie der Frau entgegengingen. »Sie hat Doll so viele Kinder gebären müssen, daß sie nie zu sich selber kam. Die Zwillingsmädchen, die sie an der Hand führt, sind ihre Enkelinnen. Die Mutter, Lissie, starb im Wochenbett.«
Leah wurde Esther Stark und den sechsjährigen Zwillingen vorgestellt; danach führte Linnet sie in den Drugstore der Macalisters.
»Mit den Jahren ist das Geschäft ständig größer geworden«, erklärte Linnet. »Ich führe jetzt die Bücher, damit Devon auch mal einen freien Tag hat. Das alles hat sich doch recht positiv entwickelt«, setzte sie nachdenklich hinzu, mehr an sich selbst als an Leah gerichtet.
Vor dem kalten Kamin saß ein hagerer alter Mann und schnitzte an einem Stock.
»Ist das die Neue?« fragte der Alte.
»Darf ich Ihnen Doll Stark vorstellen?« sagte Linnet. »Doll, das ist Mrs. Leah Stanford.«
Leah nickte dem alten Mann zu, während sie sich an alles erinnerte, was Justin ihr von seinem Vater erzählt hatte.
Doll blickte Leah an und schien ihre Antipathie zu spüren. »Ich glaube, ich habe noch etwas zu erledigen«, sagte er und stand von seinem Schemel auf.
Als die beiden Frauen allein im Laden waren, umgeben von Regalen mit den verschiedensten Waren, sagte Linnet mit einem leichten Stirnrunzeln: »Seit Phetna und der alte Gaylon tot sind, fühlt er sich sehr einsam.« Dann holte sie etwas weiter aus, weil Leah sie verständnislos ansah: »Nachdem Devon und ich geheiratet hatten, pflegte Doll jeden Tag hierherzukommen und sich dort mit seinen Freunden Gaylon und Phetna vor den Kamin zu setzen, aber als die beiden starben, schien Dolls Lebenskraft gebrochen. Devon hat versucht, jemanden zu finden, der mit Doll im Laden sitzt, doch heutzutage scheint niemand mehr ein richtiges Talent zur Muße zu haben. Vielleicht liegt das an den vielen
Reisenden, die die Stadt passieren. Alles ist hektischer geworden.«
Leah hörte sehr viel Liebe aus Linnets Stimme heraus, und es war, als würde ihr jemand eine bekannte Geschichte in einer ganz anderen Fassung erzählen. Justin haßte seinen Vater seiner Faulheit wegen, während andere diese Eigenschaft an ihm schätzten.
Als sie im Laden beieinander standen, hörten sie draußen den Schrei einer Frau.
»Das war doch Miranda«, rief Linnet erschrocken und rannte auf die Straße hinaus.
Ein Pferdegespann raste die Main Street herunter, und dahinter ein Wagen, der wie betrunken von einer Seite auf die andere schleuderte. Ein hübsches junges Mädchen saß darin, das sich mit wilden, schreckgeweiteten Augen am Geländer des Kutschbocks festzuhalten versuchte.
»Devon!« schrie Linnet, während der Wagen in wilder Fahrt an Leah und ihr vorbeiraste. Im nächsten Augenblick liefen die beiden Frauen schon hinter dem Wagen her.
Weder Mac noch Wesley befanden sich in der Nähe der Hauptstraße, als die Pferde mit der Kutsche durchgingen; aber Bud und Cal waren auf die Schreie aufmerksam geworden. Es war erstaunlich, wie schnell diese Hünen sich bewegen konnten. Als hätten sie sich vorher abgesprochen, rannte Bud zum Heck der Kutsche, während Cal auf die Pferde zulief.
Bud schwang sich auf den Wagen hinauf, turnte behende über eine Sitzbank und arbeitete sich zum Kutschbock vor. Er faßte mit einer Hand das Mädchen um die Taille, während er
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