Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
es stört dich nicht, wenn ich nicht extra aufstehe. Du siehst auch toll aus. Du arbeitest so hart, aber man sieht es dir einfach nicht an. Immer so frisch und voller Leben.«
Es war vielleicht wenig diplomatisch, aber auch Shep konnte nicht umhin zu bemerken, dass Carol wirklich bezaubernd aussah. Vielleicht aus Angst, die Gastgeberin auszustechen – so war Carol; darüber hatte sie sich bestimmt Gedanken gemacht –, hatte sie sich eindeutig für den Abend nicht groß zurechtgemacht und einfach irgendetwas übergezogen. Doch der Schuss war nach hinten losgegangen. Wer hätte es der armen Frau vorhalten können, dass sie im schlichtesten Outfit am besten aussah? Das meerblaue ärmellose Kleid betonte nur umso mehr ihre sehnige Figur und spannte augenfällig über dem Busen. Was natürlich bestimmt keine Absicht gewesen war. Schon möglich, dass sie das zarte Sommerkleidchen ganz hinten aus dem Schrank gefischt hatte – es hing in jenen anatomisch unlogischen Falten, die typisch dafür waren, wenn etwas monate- oder gar jahrelang auf einem Kleiderbügel vor sich hin gewelkt hatte, – und passte nicht sonderlich gut. Das aber hatte zur Folge, dass sich ihre Brustwarzen unter dem Material abzeichneten, und es war schwierig, nicht hinzustarren. Glynis hatte keine nennenswerten Brüste mehr. Der implizite Kontrast hätte einer einst nicht minder attraktiven Frau ein Gefühl der Verbitterung geben müssen. Wenn dem so war, schien seine Frau mit einigem Erfolg die Bitterkeit zu überspielen. Tatsächlich wusste niemand so gut wie Shep, wie sehr sich Glynis zusammennahm.
Lärmend kam Jackson mit einem Tablett herein, den Krug Margaritas übervoll, die Gläser mit zu viel Salz am Rand. Er hatte eine nachlässige Seite, derentwegen sich die Freunde damals, als Jackson in Sheps Firma noch als Handwerker jobbte, immer wieder in den Haaren gelegen hatten, und wahrscheinlich war es für alle einschließlich der Kunden das Beste, dass er in eine Führungsposition aufgerückt war. Alles, was Jackson in die Hand nahm, lief auf einen Exzess hinaus.
»Shep sagt, man hätte dir einen neuen Cocktail verordnet«, sagte er und schenkte Glynis reichlich ein. »In diesem Sinne.«
Glynis schien die Anspielung nicht zu begreifen. (Mit Enttäuschung hatte Shep einmal festgestellt, dass in darwinschen Kategorien die Natur einen Sinn für Humor als verzichtbar betrachtete.) Während Jackson der restlichen Runde einschenkte, besah sie das Glas in ihrer Hand wie ein Foto aus besseren Zeiten. Auf »Adrian muss ziehen« sollte Glynis möglichst wenig Alkohol trinken, was Jackson hätte wissen können, wenn er denn gefragt hätte. Das Glas war zwar ein fröhliches Requisit, doch im Grunde trug es lediglich dazu bei, das Bühnenhafte des ganzen Ereignisses zu unterstreichen. Sie würden sich an die Bühnenanweisungen für das Stück Ein weiteres heiteres Essen mit Jackson und Carol halten, denn niemand hatte das Skript geliefert hinsichtlich der Frage, was die Veranstaltung sonst darstellen sollte.
»Habt ihr beiden diesen Schlamassel mit Katrina verfolgt?«, sagte Jackson zur Einführung.
Ausnahmsweise war Shep froh über aktuelle Ereignisse, ein offizielles Thema, das sie über die Tortillachips hinwegretten würde.
»Klar, bei uns läuft so ziemlich den ganzen Tag CNN«, sagte Glynis.
Sie hätte hinzufügen können, dass sie sich diebisch gefreut hatte über Katrina. Glynis hatte schon immer eine boshafte, dunkle Seite gehabt, aber jetzt war es nicht mehr bloß eine Seite . Sie sah sich mit Begeisterung Bilder der Verheerungen an – wie die großen geräumigen Häuser bis ins Obergeschoss mit galligem, öligem Wasser vollliefen. Wie schwarze Matriarchinnen vergebens von ihren Häuserdächern aus nach Rettung winkten und jetzt wussten, dass sie allein waren auf der Welt und dass es niemanden kümmerte. Tja, spürte er Glynis kühl antworten, willkommen im Klub. Es machte ihr nicht das Geringste aus, andere Menschen leiden zu sehen. Glynis ging es ja nicht besser. Die Aussicht auf eine ganze Stadt, die nicht länger leben würde als sie selbst, schien ihr eine gewisse Genugtuung zu schaffen. Wenn es nach ihr ginge, würde sie gern auch noch andere Städte packen, darunter vor allem New York, und mit sich in den Abgrund ziehen. Mit schwungvollem Befreiungsschlag hatte Glynis ihre Empathie aufgegeben und spiegelte trotzig genau jene Teilnahmslosigkeit gegenüber ihrem eigenen Schicksal wider, die sie zunehmend hinter den vermeintlich guten
Weitere Kostenlose Bücher