Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
hatte die Darbietung sowohl anregend als auch verstörend gefunden. Aber da war noch etwas gewesen, was er Carol niemals auf die Nase gebunden hätte. Wüsste sie davon, würde sie ihn verachten – also noch mehr verachten, vorausgesetzt, dass das möglich war. Ohne Shep hätte sich der ganze Albtraum niemals so abgespielt.
Trotz der Beteuerung, dass das Ausmaß ihrer jeweiligen Misere »kein Wettbewerb« sei, fragte sich Jackson nämlich inzwischen, ob es nicht doch ein subtiles Element der Konkurrenz zwischen ihnen beiden gab. Shep musste ja immer den Helden spielen, den Stoiker, der allen Lasten standhalten konnte, den Atlas, auf dessen Schultern die Geschicke der Welt ruhten. Jackson hatte die Tugendhaftigkeit seines Freundes satt – diese Empathie, dieses unerträgliche Sichverbiegen, um alles auch ja von der anderen Seite aus zu betrachten, dieses stumpfe Alleshinnehmen – und vielleicht war er deswegen gerade so aus der Haut gefahren, um diesem Einfaltspinsel endlich mal zu zeigen, wo der Hammer hing. Man seufzte nicht einfach nur und zückte mal wieder sein Scheckheft; man regte sich gefälligst auch mal auf.
Außerdem machte Flicka bestimmt mehr Arbeit, als Shep sich überhaupt vorstellen konnte, und auf einmal sollte Jackson sich Sheps schrecklicher Situation mit Glynis’ schrecklicher Krankheit unterordnen. Dabei war Shep nicht der Einzige, der damit zurechtkommen musste, dass jemand, den er liebte, wahrscheinlich bald sterben würde. Manchmal hätte Jackson den Kerl am liebsten genommen und geschüttelt. Verstehst du jetzt, wie es für mich die ganze Zeit war, seitdem wir damals Flickas Diagnose bekommen haben, weil sie, ausgerechnet, als Säugling nicht weinen konnte? Wie das ist, wenn man nie weiß, ob dieser eine Mensch, der einem das Leben lebenswert macht, nicht vielleicht plötzlich einen unangekündigten Abgang macht, und dann stellt sich heraus, dass man recht hatte – und das Leben ist tatsächlich in der Folge nicht mehr lebenswert. Shep wusste doch wohl, dass Flicka sich zwar den Wecker stellte und sich ihre Dose Compleat selbst einfüllte, dass ihr Vater meistens aber doch für seine alte Vier-Uhr-Schicht aufstand, vorgeblich, um sich ein Glas Wasser zu holen, aber eigentlich, um an Flickas Zimmer vorbeizugehen und sich zu vergewissern, dass sie noch am Leben war. Denn so verabschiedeten sich die meisten dieser Kinder: Sie schliefen ein und wachten einfach nicht wieder auf. So verrückt, wie es war, aber laut dieser letzten CT hatte Glynis ja anscheinend doch noch eine Chance. Für Flicka würde es nie ein Testergebnis geben, bei dem sich plötzlich die Aussicht auf einen Beruf und eine eigene Familie eröffnete. Da er an diesem Nachmittag so beschäftigt damit war, den hilfsbereiten Freund zu spielen, hatte Jackson noch gar nicht erwähnt, dass Flicka am Vortag wieder in die New-York-Methodist-Klinik eingeliefert worden war. Ihre Lungenentzündungen folgten in immer kürzeren Abständen und wurden von Mal zu Mal schlimmer. Die Antibiotika schlugen immer weniger an, und in der Welt tobte ein Heer von räuberischen Mikroben, die sich gegenüber den Medikamenten zunehmend immun zeigten. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal einfach nur mit der Familie gefaulenzt hatte, nach dem Essen ein bisschen ausgelassen gewesen war wie damals im letzten Frühjahr, als er mit seinen Kindern die Prüfungsfragen von 1895 durchging. Carol musste ja immer alles schlecht machen, aber sie hatten es lustig gehabt damals.
Nachdem Jackson seinen Freund als Vollidioten und Weichei beschimpft hatte, hielt Shep auch die andere Wange noch hin, indem er sich kurz vor dem Büro freundlich erkundigte: »Und, habt ihr einen Termin gefunden?«
»Ach ja, stimmt«, sagte Jackson. »Die kleine Feier wegen Glynis’ CT. Klar, ich schau gleich im Büro mal in meinen Kalender.«
Er war der Einladung immer wieder ausgewichen und wusste selbst nicht genau, ob er neidisch war auf die gute Nachricht über das optimistische Resultat der CT oder ob er ihr einfach nur misstraute.
Kapitel 13
Shepherd Armstrong Knacker
Merrill Lynch Konto-Nr. 934 – 23F917
01. 08. 2005 – 31. 08. 2005
Gesamtnettowert des Portfolios: $ 274 530,68
DEN GANZEN TAG hatte sich Shep durch seine To-do-Liste gearbeitet. Lebensmittel einkaufen. Grillkohle besorgen. Gemüse schneiden – das am Ende ohnehin wieder keiner essen würde. Einen Dip zusammenrühren – für den er trotz seines Widerwillens Nancys Dosenananas benutzt
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