Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
Downtown«, fuhr Jackson fort, »um die City Hall ist es ja total unmöglich, einen Parkplatz zu finden. Dafür gibt’s einen Grund, und es liegt nicht daran, weil wir in New York sind und die Plätze eben knapp sind. Es liegt an den Absahnern in der Regierung. Die Stadt hat 142 000 Parkerlaubnisse rausgegeben, auf denen steht, dass die jeweiligen Besitzer von den Parkregeln ausgenommen sind. Diese beschissenen Schmarotzer brauchen nur ihr kleines Kärtchen aufs Armaturenbrett zu stellen, und bingo, können sie ihren zufahrtsberechtigten Arsch sogar im Parkverbot abstellen. In Lower Manhattan haben sie mehr als 11 000 Gratisparkplätze zur Auswahl. Und wisst ihr, wie viele Parkplätze die armselige Allgemeinheit zur Auswahl hat? 665. Das, Freunde, ist keine Demokratie. Das ist Tyrannei. Wir zahlen für den Asphalt, den Bordstein, für die Reparatur von Schlaglöchern, für die Schilder, auf denen steht, dass wir uns verpissen sollen, und diese Leute parken, wo sie wollen, umsonst und so lange sie Bock haben.«
Shep hätte sich gehütet, jemals in Manhattan einen Parkplatz zu suchen. Das alles tangierte ihn nicht. Er tauschte mit Carol einen Blick aus, die peinlich berührt wirkte. »Das ist nur Jacksons Holzhammermethode, unsere Verspätung zu entschuldigen«, sagte sie. »Er musste unbedingt noch bei Astor Liquors auf der Lafayette Street anhalten, wo es den billigen Tequila gibt, und wir haben eine Dreiviertelstunde einen Parkplatz gesucht.«
Natürlich bot Carol ihre Hilfe an, während Jackson dazu überging, Limettensaft über sämtliche von Shep soeben sauber gewischten Arbeitsflächen zu spritzen. Und natürlich wollte sie Glynis begrüßen. Shep eilte auf die hintere Veranda, um sie zu wecken, obwohl es dieser Tage einen aufschlussreicheren Einblick in das Leben in Elmsford dargestellt hätte, wenn die Gäste seine Frau statt im ungestümen Begrüßungsmodus im katatonischen Kollaps vorgefunden hätten. Leider kam er nicht rechtzeitig, um ihr den Turban wieder um den Kopf zu wickeln, der zu Boden gerutscht war. Sie war immer stolz auf ihre äußere Erscheinung gewesen, wobei Shep vor dem Wort eitel zurückgeschreckt wäre, und stolz war sie noch immer.
Carol hatte mit Flicka alle Hände voll zu tun gehabt, die seit August eine hartnäckige Lungenentzündung hatte, also konnte Shep ihr nicht vorwerfen, seit gut sechs Wochen nicht mehr in Westchester vorbeigekommen zu sein. Sie gab sich alle Mühe, den Schock zu überspielen, aber er war ihr ins Gesicht geschrieben. Carols letzter Stand war, dass die wunderbare Nachricht der CT von Anfang Juli und die Heilung gefeiert werden sollten. Insofern hatte sie jeden Grund gehabt zu glauben, dass ihre Freundin wenn sie auch nicht wieder ganz bei Kräften sei, dann doch zumindest von menschenähnlicher Farbe und dreidimensionaler Form sein würde.
Jacksons wiederholte faule Ausreden und Terminverschiebungen aber hatten diese Zusammenkunft bis Mitte September hinausgezögert. Nicht nur im jahreszeitlichen Sinne war die Stimmung herbstlich geworden. Shep hatte keinen Blick mehr dafür, doch als er Glynis mit Carols Augen betrachtete, erkannte er, dass sich seine Frau auf ähnliche Art verfärbt hatte wie das üppige Sommerlaub. Ihr bräunlicher Teint war grau geworden wie eine Urlaubsbräune, die zur traurigen Inlandsfarbe verblasst war und nur noch schmutzig wirkte; der fahle orangefarbene Unterton erinnerte an ranzigen Tee. Wegen der neuen Chemo mit Adriamycin (oder, wie Glynis sagte, »Adrian muss ziehen«, was dem Medikament etwas von einem Schachspiel gab) hatte sie den Großteil ihrer Haare verloren; nachdem ihr mit Alimta kaum Haare ausgefallen waren, hatte sie gehofft, zu den wenigen glücklichen Chemopatienten zu gehören, die davon verschont blieben. Ihr Schädel hatte etwas schrecklich Nacktes und schimmerte durch die letzten dunklen Strähnen umso deutlicher hervor. Weitaus schlimmer als etwa ein zu tiefer Ausschnitt waren diese nackten Stellen beunruhigend intim und wirkten wie etwas, das andere wahrhaftig nicht zu Gesicht bekommen sollten. Sie war natürlich wieder abgemagert und sah außerdem aus, als wäre sie geschrumpft.
Carols gezwungener Ausruf, »Glynis, das ist aber ein tolles Kleid!«, war immer noch besser als Glynis, du siehst ja grauenhaft aus!
Glynis wirkte groggy und schien sich verwirrt zu fragen, was diese Leute hier im Haus zu suchen hätten. Die Schale Tortillachips schien ihr auf die Sprünge zu helfen. »Ach, Carol, danke. Ich hoffe,
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