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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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du meinetwegen jetzt was Dramatisches tun musst.«
    »Keine Sorge«, sagte Jackson. »Wenn ich was Dramatisches tue, dann meinetwegen.«
    Seltsam, aber der Entschluss manifestierte sich nicht mit einem Mal. Es ging kein Licht an – oder aus. Weder sein Kopf noch seine Stimmung beschrieben eine scharfe Kurve nach Süden. Aber es war genau in diesem Moment, als sich Jackson nicht vorstellen konnte, noch einen einzigen Nachmittag in dieser lächerlichen Wabe zu schuften, und sich ebenso wenig vorstellen konnte, sich allen Ernstes irgendwo zu bewerben, um in irgendeiner anderen Wabe zu schuften, dass sich die theoretische Urlaubsinsel in seinem Kopf, auf die er sich seit einigen Monaten immer wieder zurückgezogen hatte – sein ganz privates Pemba –, tatsächlich zu einer Landmasse zu erhärten begann. Jackson wusste, wohin er vielleicht reisen würde. Denn diese Niete, die er gezogen hatte, rührte ja nicht von falschen Vorstellungen, ja nicht mal wie bei Glynis von einer Weigerung, der Realität ins Auge zu sehen. Es war keine Verleugnung, sondern die Erkenntnis, dass er sich nicht noch einmal durch einen sinnlosen Arbeitstag schleppen würde, als eine von vielen winterharten Pflanzen, die den Kopf aus der Erde streckten und sich vom Staat ernten ließen. Das würde er nicht wieder tun. Das war einfach nicht mehr drin.
    »Ich glaube«, verkündete Jackson leichthin, » ich nehme mir heute frei .«
    Shep zuckte mit den Achseln. »Na dann, wie wär’s mit einem Spaziergang? Prospect Park, wie in alten Zeiten. Da ich von jetzt an ja wohl nur noch frei haben werde.«
    »Nur, wenn du dir die Jacke da überziehst. Ich frier schon beim Anblick.« Pflichtschuldig zog Shep seine Schaffelljacke über. »Die Hose auch«, sagte Jackson vorwurfsvoll.
    Shep sah auf seine nackten Beine und grinste. »Ich glaube nicht. Irgendwie passt mir der Aufzug gerade ganz gut.«
    »Du siehst total durchgeknallt aus.«
    »Genau das meine ich.«
    Also machten sie sich auf und liefen die 7th Avenue hinunter. Das war der nächste Moment, der Punkt, an dem sein bislang verschwommenes inneres Pemba ein wenig schärfer wurde, als hätte er den Sucher einer Wegwerfkamera darauf gerichtet: der Moment, an dem er mit Sicherheit erkannte, dass dies sein letzter Spaziergang sein würde. Dass sie zum letzten Mal zusammen in die 9th Street bogen.
    »Und – wie geht ’ s dir?«, fragte Shep in dem gleichen emphatischen Tonfall wie Ruby damals in der Klinik am Krankenbett ihrer Schwester.
    Jackson nahm sich einen Moment Zeit und spielte ernsthaft mit dem Gedanken auszupacken – die Schulden, dass er allein schon mit der Mindestmonatsrate für eine Visa- und eine Discoverkarte schon im Zahlungsrückstand war. Die Operation, die unsäglichen Rekonstruktionen, die alles nur schlimmer gemacht hatten. Die Erkenntnis in der Union Street, dass er offenbar eine Frau nicht mal mehr für Geld dazu bringen konnte, mit ihm ins Bett zu gehen. Aber er hatte das Gefühl, es war zu spät und würde zu lange dauern. Treffender noch, nachdem er sein Herz ausgeschüttet hatte, wäre alles noch immer genau wie vorher. Es war natürlich anzunehmen, dass am Ende ohnehin alles rauskäme, aber das konnte er akzeptieren. Dann könnten sie sich alle das Maul zerreißen, und ein Gesprächsthema würden sie brauchen. Die Erklärung wäre eine saubere Sache, und sie würden sich daran festhalten. Den echten Grund auszuformulieren hatte Jackson gar keine Lust, denn zu den vielen ihm merklich entgleitenden Gelüsten gehörte auch der Wunsch, verstanden zu werden; wunderbarerweise erlöste ihn die heutige »Du kommst aus der Therapie frei«-Karte auch von der Verpflichtung, sich selbst zu verstehen.
    Nichtsdestotrotz wollte er Shep nicht weiter so grausam ausgrenzen, also zog er ihn aus Nettigkeit ins Vertrauen. »Flicka geht den Bach runter. Dass das unvermeidlich ist, hilft einem nicht weiter. Meine Ehe geht den Bach runter, was nicht unvermeidlich ist. Aber die Vermeidlichkeit – ist das ein Wort? – hilft einem auch nicht weiter.«
    »Das tut mir leid. Was ist denn passiert?«
    Jackson gab sich alle Mühe, ehrlich zu sein, sich dabei aber kurzzufassen. Shep war derjenige, der im Moment die Probleme hatte, und er wollte nicht egoistisch sein. Da ihm ein ähnlicher Dauerurlaub bevorstand, wie ihn Shep jahrelang geplant hatte, und da er sein eigenes Pemba nicht mehr nur aus der Ferne betrachtete, sondern immer deutlicher schon die verkürzte Gegenwart aus der Inselperspektive sah,

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