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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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durchatmen, und versuch nicht zu reden.«
    Doch als er sie in den Arm nehmen wollte, schob sie ihn mit einer Kraft, die er ihr gar nicht mehr zugetraut hätte, von sich. Auch wenn Shep inzwischen gut darin geworden war, nichts mehr von dem persönlich zu nehmen, was Glynis dieser Tage so tat, war die heftige körperliche Reaktion nun doch eine unerwartete Kränkung. Er zog sich auf die andere Seite des Sofas zurück und verschränkte die Arme.
    »Es ist«, presste sie wieder hervor, und dann endlich schleuderte sie ihm die Worte entgegen, erbrach sie gleichsam mit Ekel und Erleichterung zugleich: »Es – ist – alles – meine – Schuld . «
    »Was ist alles deine Schuld, Glynis?« Die Kälte in seiner Stimme war eine Gefälligkeit. »Ich kann mir nicht vorstellen, was deine Schuld sein soll.«
    »Das hier!«, stieß sie hervor und fuhr mit der Hand über ihren eingesunkenen Unterbauch. »Das alles!«
    »Was alles?«
    »Der Krebs, die Chemo!«, brachte sie zwischen Schluchzern hervor. »Ich hab’s darauf angelegt. Ich hab mir das selbst eingebrockt!«
    »Was redest du denn da. Du bist einfach nur erschöpft –«
    »Halt den Mund!«, rief sie und schlug beide Hände auf die Oberschenkel. »Halt den Mund, halt den Mund, halt den Mund!«
    Sie wartete, dass er wie üblich tat, was sie befahl. Stumm saß er da, ein Stück von ihr entfernt, während sie sich wieder halbwegs in den Griff zu bekommen schien.
    »Auf der Kunstschule«, sagte sie. »Die Wickelpappeblöcke, die Handschuhe, die Beschichtung der Schmelztiegel – klar, in den Siebzigern war Asbest in solchen Produkten ja nicht verboten. Aber es war immerhin ein Thema. Ich wusste davon und meine Lehrer auch. Eine meiner Professorinnen war sogar richtig besorgt deswegen. Woher hätte ich denn sonst überhaupt gewusst, dass das alles Asbest enthält?«
    Er wollte sagen, nur weil sie es gewusst habe, sei es noch lange nicht ihre Schuld, aber er merkte, dass das »Halt den Mund«Edikt noch in Kraft war.
    »Jedenfalls, diese Professorin, ich weiß sogar noch ihren Namen, Frieda Luten. Sie hatte ziemlich viel über das Thema gelesen. Zu Beginn meines ersten Semesters hatte sie die Blöcke und Handschuhe eingesammelt, wirklich alles, was eine ›Gefahr für Leib und Leben‹ hätte darstellen können, und in einen Vorratsschrank getan. Die Regale waren beschriftet mit ›Bitte nicht verwenden und nicht anfassen‹. Sie hatte Ersatzmaterialien bestellt, wollte aber das alte Zeug nicht wegwerfen. Die Verkaufsabteilung von Forge Craft hatte ihr gesagt, dass die Firma wahrscheinlich eine Rückrufaktion starten würde und die Schule die alten Vorräte dann gegen neue eintauschen könnte. Die Firma startete den Rückruf auch tatsächlich, aber erst ein Jahr später. Das ist die Rückrufaktion, von der Rick Mystic sagte, dass wir sie damit bei unserer Klage drankriegen.«
    Er konnte sich nicht mehr zurückhalten. »Du willst mir also damit sagen, dass du die Produkte nie benutzt hast? Aber wie ist es denn sonst möglich, dass –«
    »Ich bin noch nicht fertig.«
    Shep verstummte.
    »Du musst verstehen«, sagte sie und richtete den stumpfen Blick auf den Hochzeitsbrunnen; defekt und trübe, wie er war, wirkte er plötzlich verstörend billig, wie irgendein Kitsch aus dem Trödelladen. »Oder dich erinnern. Wie es war, als man jung war. Das Gefühl zu haben, dass die neurotischen kleinen Sorgen der Älteren für einen nicht gelten. Diese Sache mit dem Asbest, das war was Abstraktes. Ich dachte, die Leute machen einen Riesenwirbel um nichts, so wie dieser Riesenwirbel um den roten Farbstoff Nr. 2, nachdem ich als Kind immer die Maraschinokirschen auf meinem Eisbecher gegessen hatte und auch nicht davon gestorben bin. Und wie du weißt, ändern sie ständig ihre Meinung über das, was gut für einen ist und was einen umbringt – wie dieser ganze Aufstand um Sacharin, und dann bringen sie Aspartam ins Spiel, was wahrscheinlich genauso schlimm ist … dies ist giftig und das ist giftig … na ja, irgendwann nimmt doch keiner mehr irgendwas ernst, oder? Und damals gab es ja noch kein Internet; ich konnte nicht einfach bei Google das Wort Asbest eingeben und 15 Millionen Einträge finden. Und ich war total pleite.«
    Sie drehte sich zu ihm und blickte ihn wütend an. Er hatte das Gefühl, jetzt etwas sagen zu müssen. »Und …?«
    »Ach, sei doch nicht so ein Idiot! Ich hab das Zeug gestohlen, Shepherd! Ich wusste, sobald ich meinen Abschluss hätte, würde ich mir ein

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