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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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eine furchtbar verständnisvolle Sicht auf Ihre missliche Lage.«
    »Für mein Verständnis «, sagte Shep, »bin ich bekannt. Doch infolge meines Frührentnerstatus wird sich meine Krankenkasse nicht nur weigern, 100 000 Dollar für Pterodaktylus hinzublättern, oder wie das Zeug heißt. Sie wird auch Ihre Rechnungen nicht bezahlen.«
    »Verstehe«, sagte Goldman. »Und ich nehme an, dass Ihre persönlichen Ressourcen einigermaßen erschöpft sind?«
    » Einigermaßen? Das können Sie laut sagen.«
    »Nach dem, was Sie mir gerade geschildert haben, kann ich verstehen, warum Sie vielleicht ein wenig wütend sind.«
    »Nein, das können Sie nicht. Meine Entlassung war das Schönste, was mir seit über einem Jahr passiert ist. Aber Sie haben recht, dass ich ›ein wenig wütend‹ bin. Mir ist klar, dass Sie ganz normal Ihr Programm abgespult haben. Sie haben getan, was Leute wie Sie eben so machen. Sie pflügen sich immer weiter durch die Medikamente, arbeiten sich durch die Liste, sorgen dafür, dass keiner den Kopf hängen lässt, dass alle optimistisch bleiben und niemals das Wort sterben in den Mund nehmen. Meine Frau zum Beispiel nimmt nie das Wort ›sterben‹ in den Mund. Ehrlich, ich kann mich nicht erinnern, wann ich sie zuletzt das unaussprechliche Wort habe sagen hören. Niemand in diesem Gewerbe soll jemals die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und sagen, das war’s, solange es noch die klitzekleinste Chance gibt, dass irgendeine neue Therapie noch ein paar Tage mehr rausschlägt. Sie haben sich nur an Ihr Drehbuch gehalten. Aber könnten wir einmal, wo Glynis nicht dabei ist, die Karten auf den Tisch legen? Dieses ›Versuchsmedikament‹ – Sie glauben doch nicht wirklich, dass es irgendeinen Unterschied machen wird.«
    »Ich sagte ja, es ist nicht mehr als ein Versuch.«
    »Wie stehen die Chancen? Fünfzig zu eins? Wären Sie bereit, ihr eigenes Geld darauf zu setzen?«
    »Es ist schwierig, so etwas mit Zahlen zu belegen. Sagen wir einfach nur, es gibt eine entfernte Chance.«
    »Wenn ich ein Spieler wäre, würde ich persönlich keine Hunderttausend auf eine ›entfernte Chance‹ setzen. Sie?«
    Goldman antwortete nicht.
    »Zweitens, verzichten wir doch einmal auf den Satz ›Ich glaube nicht daran, Prognosen aufzustellen‹. Sie wissen doch, wie’s läuft. Sie wissen mehr über Mesotheliom als sonst jemand in diesem Land, Sie sind der Experte. Also sagen Sie mir: Wie lange hat sie noch zu leben?«
    Goldmans Miene erinnerte Shep daran, wie er sich als Junge in Berlin mit seinem besten Freund geprügelt und sich auf ihn gesetzt und ihn endlich dazu gebracht hatte, seine Niederlage einzugestehen.
    »Vielleicht einen Monat? Möglicherweise eher drei Wochen.«
    Shep zuckte zusammen, als hätte ihm jemand einen Schlag in die Magengrube verpasst.
    »Das will niemand hören, das ist mir klar«, fuhr Goldman behutsam fort. »Und es tut mir sehr, sehr leid.«
    Drei Wochen waren genau die Zeit, die Shep selbst vorhergesagt hätte, doch die nüchterne Einschätzung eines Arztes war noch mal etwas anderes. Es war nicht mehr möglich, kämpferisch, aggressiv und feindselig zu sein, wobei er beim Verlust dieser Stimmung merkte, wie sehr sie ihm noch fehlen würde. Abgesehen von diesem Termin bei Dr. Goldman beschränkte sich die Lebenszeit, die Shep Knacker damit zugebracht hatte, kämpferisch, aggressiv und feindselig zu sein, auf unter fünf Minuten.
    Shep sammelte sich, und währenddessen füllte der Doktor das Schweigen. »Wenn ich an meine vielen Patienten denke, hat Ihre Frau vielleicht den überwältigendsten Kampfgeist gezeigt. Sie hat einen bemerkenswerten, einen wirklich bewundernswerten Widerstand geleistet.«
    »Das ist nett von Ihnen, und ich verstehe, dass Sie ihr ein großes Kompliment machen wollen, aber … diese Art zu denken …«
    Shep stand auf und lief auf dem kleinen Stück Teppich vor der Tür auf und ab. » Widerstand. Widrigkeiten überwinden . So wie die Leute in der Online-Selbsthilfegruppe, zu der Glynis neuerdings gehört, immer davon reden, die Ohren steif zu halten. Nicht loszulassen. Nicht aufzugeben. Die letzte Meile zu gehen. Man könnte meinen, da wird irgendein Schulsportfest organisiert. Dr. Goldman, meine Frau ist sehr ehrgeizig! Sie ist leistungsorientiert, eine Perfektionistin – und auch wenn es komisch klingt, ist das auch der Grund, warum sie professionell nicht so produktiv gewesen ist, wie sie es mit geringeren Ansprüchen gewesen wäre. Wie hätte sich

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