Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
konnte, waren alle Jüngeren in letzter Zeit in die undifferenzierte Kategorie »jünger als ich« getreten, was eigentümlich war, da er selbst schon das Alter durchlaufen hatte und wusste, wie der Lebensabschnitt sich anfühlte und wie man dabei im Spiegel aussah. Aus der Perspektive des höheren Alters stellte sich immer heraus, dass man währenddessen überhaupt nicht begriff, was es hieß, siebenunddreißig zu sein. Dummerweise angesichts der gegenwärtigen Umstände wirkten jüngere Menschen auf Shep jetzt immer unreif, und eine Sicherheit, wie sie Dr. Knox in pulsierenden Wellen ausströmte, wirkte hohl und aufgesetzt. Dennoch wollte Shep an diesen Mann glauben und konnte nur hoffen, dass er von Freunden »Edward« gerufen wurde und nicht »Ed«, was kapriziös und weniger zuverlässig klang. Fit und gepflegt, wie er war, wählte Knox wahrscheinlich in der Cafeteria zum Nachtisch Obst und stieg im Fitnessraum der Klinik regelmäßig aufs Laufband; er ließ seinen Worten Taten folgen. Shep selbst hatte immer eine Schwäche für Mediziner gehabt, die zwanzig überflüssige Pfunde mit sich herumschleppten und heimlich auf dem Dienstparkplatz rauchten. Die Heuchelei hatte etwas Beruhigendes. Von Ärzten hatte Shep immer weniger nach Sachkenntnis als nach Vergebung gesucht.
»Tut mir leid, dass wir so lange gebraucht haben, um zu einer positiven Diagnose zu gelangen«, begann Dr. Knox und wandte sich zu Shep. »Ein Mesotheliom ist notorisch schwierig zu identifizieren, und wir mussten erst alle möglichen anderen, geläufigeren Erklärungen dafür ausschließen, warum Ihre Frau zu Fieber, Druckempfindlichkeit, dem aufgeblähten Unterbauch und den gastrischen Motilitätsstörungen neigt.« Shep wusste nicht, was mit Motilitätsstörungen gemeint war, aber er fragte nicht nach, weil der Doktor dann wissen würde, dass es ein weiteres Symptom seiner Frau war, das ihm egal gewesen oder nicht aufgefallen war.
»Wie Sie sicherlich schon von Ihrer Frau wissen, ist das Peritonealmesotheliom äußerst selten«, fuhr Dr. Knox fort. »Und ich will Ihnen nichts vormachen. Es handelt sich um eine sehr ernste Erkrankung. Da das Peritoneum eine zarte Membran darstellt, die in etwa wie Frischhaltefolie die Organe umhüllt, kann sich die Krankheit in den Falten einnisten, an die man auf operative Weise nur schwer oder gar nicht herankommt.« Shep bewunderte die Formulierung des Arztes, mit der er zumindest so tat, als wüsste Shep über das Peritoneum Bescheid; Knox wollte keinesfalls unterstellen, dass der Ehemann seiner Patientin den gravierenden medizinischen Problemen seiner eigenen Frau so wenig Beachtung schenkte, dass er sich nicht die Mühe gemacht hätte, ihre Diagnose in einem Lexikon nachzuschlagen. »Und ich muss Ihnen leider sagen, dass die Mesotheliom-Symptome sich normalerweise erst dann bemerkbar machen, wenn der Krebs schon relativ weit fortgeschritten ist. Nichtsdestotrotz stehen uns eine Reihe von Therapien zur Verfügung. Ständig werden neue Behandlungen, neue Ansätze und neue Medikamente entwickelt. Die Überlebensrate steigt täglich an.«
Das alles wusste Shep schon aus dem Internet, aber er hatte das Gefühl, dass es unverschämt wirken würde, wenn er den Onkologen bei seiner formellen Einführung unterbrach. Shep hatte bereits genug gelesen, um zu wissen, dass die meisten Mittelchen aus Knox’ Wundertüte pures Gift waren. In Anbetracht der Tatsache, so wenig tun zu können, musste es für den Doktor also beruhigend sein, sich auf diskursive Weise nützlich zu machen. Durch seine systematische und doch liebenswürdige Art – er lächelte ermutigend und blickte Shep in die Augen – hatte Edward Knox bei Shep sofort Sympathie geweckt.
Doch auch wenn Ärzte liebenswürdig taten , lag es oft nicht in ihren Händen, wie liebenswürdig sie tatsächlich sein konnten. So behutsam ein Arzt sie auch formulieren mochte, war manch eine Botschaft, die er überbringen musste, doch grausam, und wenn er sie nicht grausam vortrug, war sie gelogen und somit noch grausamer. Shep persönlich konnte nicht verstehen, warum jemand Arzt werden wollte. Klar, einen Arterienstent zu legen und ein verstopftes Badewannenrohr zu reinigen waren technisch gesehen ähnliche Vorgänge. Aber ein Arzt war wie ein Handwerker, der relativ oft bei den Leuten an der Tür klopfen und sagen musste: Tut mir leid, ich kann Ihr Rohr nicht reinigen. Nur dazu war die Freundlichkeit gut: für diesen Moment des Bedauerns. Und dann ging er
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