Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
widerfahren. Als bräuchte die Welt noch einen Dokumentarfilm. Die soll mal ihren Fernseher anschalten. Wir können uns kaum retten vor Dokumentarfilmen, und ehrlich gesagt, die meisten langweilen mich zu Tode.«
Als Jackson seinem Gastgeber folgte, um ihm in der Küche zur Hand zu gehen, bemerkte Shep: »Sag mal, ist alles okay mit dir? Du gehst ja so komisch.«
»Ach, Quatsch, ich hab einfach nur beim Fitness ein bisschen zu viel Gas gegeben. Ich hab mir wohl irgendwas gezerrt.« Bei Carol hatte diese Ausrede funktioniert; sie hatte nicht weiter nachgefragt.
ES WAR EIN üppiges Essen mit Braten und diversen Beilagen. Da Jackson sich wegen der Wechselwirkung sorgte, hielt er sich anfangs noch, so gut es ging, beim Wein zurück, aber jedes Mal, wenn er nach dem Glas griff, schien es schon wieder leer zu sein. Irgendwann gab er auf. Es war ein besonderer Abend, und sich auszuschließen wäre kleinlich gewesen. Alle waren jetzt ausgelassener, auch wenn eine gewisse nervöse Spannung zurückblieb: Alle lachten etwas zu bereitwillig, zu laut und zu lange. Aber immer noch besser so, als Trübsal zu blasen.
»Habt ihr den Michael-Jackson-Prozess verfolgt?«, warf Shep in die Runde.
Wieder einmal war der selbst ernannte »King of Pop« bezichtigt worden, auf seiner perversen Kinderranch mit kleinen Jungs gefummelt zu haben. »Klar, die Strafverfolgung macht ’ne Schlammschlacht aus der Sache«, sagte Jackson. »Der wird freigesprochen.«
»Die Einzelheiten habe ich nicht verfolgt«, sagte Carol. »Diese Visage lenkt mich immer derart ab – diese ganzen Gesichtsoperationen. Sein Gesicht ist für mich die eigentliche Geschichte. Er sieht aus, als wäre er unter einen Zug gekommen. Faszinierend.«
»Früher hat man seine Psychoprobleme mit sich selbst ausgemacht«, sagte Shep. »Heutzutage muss man sie der ganzen Welt auf die Nase binden.«
»Ganz meine Meinung«, sagte Glynis. »Heute geht jeder mit seinen Neurosen hausieren. Früher waren wir umgeben von relativ normal aussehenden Menschen, die nach Hause gefahren sind und missmutig in den Spiegel geguckt haben. Jetzt geht man durch die Straßen, und die Frauen haben Brüste wie Zeppeline. Hormongeschwängerte Männer laufen in Push-up-BHs durch die Gegend, und an ihren Nylonstrumpfhosen sieht man, dass sie sich ’ne künstliche Vagina haben machen lassen, total grotesk. Als müsste man in den Albträumen wildfremder Leute leben.«
»Bei Jackson – also, Michael Jackson«, sagte Carol. »Was mir wirklich an die Nieren geht, ist diese Scham. Dass man ihm irgendwie das Gefühl eingeimpft hat, seine schwarze Hautfarbe sei eine Schmach, der man sich entledigen müsse.«
»Im Moment«, sagte Glynis, »habe ich keinerlei Verständnis dafür, dass man sich freiwillig irgendeiner Operation unterzieht, egal, was für eine.«
»Der Typ hat halt Geld«, sagte Jackson. »Wenn er sich ein Gesicht wie Elizabeth Taylor kaufen will, dann soll er doch.«
Alle sahen ihn an, als wären ihm gerade drei Köpfe gewachsen. Er hielt die Hände hoch. »Ich will doch nur sagen, was ist denn dabei, wenn man versucht, irgendwas zu verwirklichen, wovon man träumt.«
»Weil es nicht geht«, sagte Shep.
»So hast du über das Jenseits aber nicht gedacht«, sagte Jackson. »Das wolltest du doch auch verwirklichen.«
»Wir reden hier über Selbstverstümmelung, nicht über einen Umzug in ein neues Haus«, sagte Carol. »Es ist doch wohl klar, dass zum Beispiel jede Operation und jede Hautbleichaktion, der sich ›Wacko-Jacko‹ unterzogen hat, den Mann nur noch mehr ins Unglück gestürzt hat. Jede enttäuschende Nasen-OP ist wieder ein Erinnerung daran, dass er nicht nur seine Hautfarbe hasst und sein Geschlecht, sondern überhaupt sich selbst.«
»Genau wie mit den sexuellen Phantasien«, sagte Glynis. »Ohne jetzt ins Detail gehen zu wollen –«
»Schade!«, sagte Jackson.
»Aber habt ihr jemals versucht, sie auszuleben? Es ist schwierig oder unangenehm und peinlich. Sobald man sie in die Realität überträgt, kriegt man keinen Kick mehr davon. Phantasien funktionieren besser, wenn sie im Kopf bleiben. Wenn man sie in die Welt hinauslässt, sind sie wie eine gruselige, deformierte Nachgeburt. Und Shepherd«, sagte Glynis und hielt inne, um mit ihrer Gabel ein paar grüne Bohnen aufzuspießen, »ich glaube nicht, dass es mit dem Jenseits anders war.«
Jackson befürchtete schon das Schlimmste, aber Shep war es gewohnt, Schläge in die Magengrube einzustecken, ohne auch nur mit
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