Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)
nötigen paar Tausender gegeben – inzwischen tat nicht einmal mehr Beryl so, als handelte es sich bei dem Geld ihres Bruders um ein Darlehen –, um das Zeug mit einer professionellen Umzugsfirma nach Berlin zu schaffen. Noch immer unterstützte er Amelia, sonst hätte sie sich den Job bei ihrer Zehn-Leser-Zeitschrift nicht leisten können, und Zachs Schulgeld war genauso hoch, als hätten sie ihn auf ein Privatcollege geschickt. Sheps Vater hatte keine Ahnung, wie hoch seine winterlichen Heizungskosten waren, denn er hatte seit Jahren keinen Cent mehr selbst bezahlt. Und nichts von alldem ließ sich von der Steuer absetzen.
Wenn also dem armen Kerl obendrein auch noch vierzig Prozent von jeder dreihundert Dollar teuren Aspirintablette in Rechnung gestellt wurde bei diesem gottesherrlichen Gesundheitssystem, musste jenes einst unangetastete Merrill Lynch Konto, dachte Jackson, wohl schon um einiges schlanker geworden sein.
ALS SIE ZURÜCK in den achten Stock kamen, stand Hetty im Flur. Noch immer hatte sie die Keksdose in der Hand. Sie sah verheult aus und wirkte verwirrt.
Mit der freien Hand packte Hetty ihren Schwiegersohn am Arm. »Sheppy, du lieber Mensch, Gott sei Dank seid ihr wieder da. Ehrlich, ich weiß ja, dass es ihr nicht gut geht und sie nicht sie selbst ist. Aber diese Schoko-Paranuss-Kekse haben mich Stunden gekostet. Immer wieder die Bleche rein und raus aus dem Ofen, ständig aufpassen, dass nichts anbrennt, und dann zum Abkühlen auf den Rost, und wieder neu einfetten … damit meine Tochter was Selbstgebackenes bekommt, eine kleine Erinnerung auf dem Nachttisch, dass ihre Mutter sie liebt und sich um sie sorgt. Ich kann ja verstehen, dass sie vielleicht gerade in dem Moment keinen essen wollte. Aber warum wird sie so wütend auf mich? Was habe ich denn nur falsch gemacht? Es fällt mir so schwer, Kraft für sie aufzubringen, wo sie so furchtbar dünn ist und so furchtbar blass, ich möchte sie einfach nur in den Arm nehmen und weinen …«
Shep legte ihr den Arm um die Schulter und drückte sie an sich. »Glaub mir. Glynis hat mehr Freude daran gehabt, ein Problem mit deinen Keksen zu haben, als sie beim Essen jemals gehabt hätte.«
»Autsch«, sagte Jackson.
»Hör zu«, sagte Shep. »Ich werd mit den Leutchen hier was essen gehen.« (Und sie wieder einladen, dachte Jackson reflexhaft.) »Willst du Glynis hallo sagen? Und mach nicht so –«
»Keine Sorge.«
IN JACKSONS KOPF lärmten die Ermahnungen: Bitte sie nicht, alle Einzelheiten der Operation zu wiederholen, wenn du ohnehin schon alles weißt. Sag nichts von den biphasischen Zellen, die sie entdeckt haben, es sei denn, sie kommt von allein auf das Thema. Starre sie nach Möglichkeit nicht an, weil sie aussieht wie der Tod, aber schau auch nicht an ihr vorbei, weil sie aussieht wie der Tod. Die Sturzflut der Verbote wirkte lähmend. Als er ins Zimmer trat, fiel ihm wieder ein, dass sogar ihre Schwestern merkwürdigerweise einen kleinen Abstand zu ihr gehalten hatten; nichts Drastisches, aber beide hatten sich einen Tick zu weit weggesetzt. Auch wenn Krebs bekanntlich nicht ansteckend war, ging der Mensch aus einer tief verwurzelten biologischen Angst heraus jeder Krankheit aus dem Weg. Jackson nahm die Angst bei sich wahr und wehrte sich dagegen, er ließ den Stuhl beiseite und setzte sich neben ihre Knie auf die Bettkante. Er erwartete nichts von ihr. Da seine eigenen Schmerztabletten in etwa so wirksam anschlugen wie eine Handvoll Pfefferminzpastillen, wusste er besser als die anderen Besucher, wie sehr die Schmerzen einen von allem anderen ablenken konnten.
»Na?« Dass sie gleich die Augen schloss und vielleicht zu müde für das alles war, beunruhigte, wobei es auch ein Kompliment sein konnte; sie fühlte sich in seiner Gegenwart wohl genug, um sich gehen lassen zu können. Raschelnd holte er den Maracujasaft aus seinem Rucksack und stellte den Karton auf ihren Nachttisch. Er entschied sich dagegen, sie darauf aufmerksam zu machen; er wollte nicht wie Hetty wirken. Es ging doch darum, ihr etwas zu schenken, woran sie Freude hätte, und nicht darum, den Dank dafür zu kassieren.
Drei bis vier Minuten lang verharrten sie so. Jackson war von Natur so manisch, dass es ihm vermutlich guttat, ihr schweigend Gesellschaft zu leisten. Er nahm sich die Zeit, den selbst gebastelten Zimmerspringbrunnen auf ihrem Nachttisch zu betrachten; vom Flur aus hatte er gedankenlos und irrtümlich das unaufhörliche Tröpfeln für das
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