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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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Da er jetzt wusste, was Glynis als anständiges Genesungsgeschenk ansah – vollendet destillierte Wut, die er sich wie Rohöl vorstellte: dickflüssig, zäh und wie Teer, eine Substanz, die an den Fingern klebte und Flecken auf Kleidern und Abdrücke auf Türknäufen hinterließ –, sparte er sich seine Empörung vom Tage auf. Nach Feierabend hatte er sich bei seiner Ankunft in Elmsford ein Crescendo der Bitterkeit zurechtgelegt, das wie das Programm eines Komikers aufgebaut war, nur dass nichts daran lustig war. Ob Glynis eigentlich klar sei, dass bei Gameshows der Gewinner eines Autos einen Prozentsatz des Verkaufspreises in bar an den Staat abtreten müsse? Ob sie wisse, dass viele Amerikaner inzwischen sogar Steuern auf ihre Steuervergünstigungen zahlen müssten und dieser Vorgang dann Alternativsteuer genannt werde?
    Glynis, die inzwischen eine Spur zu Kräften gekommen war, hatte hin und wieder spontan aus dem Abseits ihrem eigenen Ekel Ausdruck verliehen. Er verließ das Schlafzimmer in einem seltsamen Glückszustand, vielleicht mit einem ähnlichen Kick wie beim Genuss von Khat, jenen bitteren Blättern, die, wie Shep mal erklärt hatte, von Unterbeschäftigten und Müßiggängern in Ostafrika gekaut wurden. Khat war ein mildes Amphetamin, und Shep hatte es einmal probiert. Er sagte, man werde davon nervös, zappelig, grundlos gereizt und scharf auf etwas, das wahrscheinlich niemals passieren würde.
    Als er in der Küchentür stehen blieb, stellte Jackson fest, dass es Flicka nur normal schlecht ging – was wie immer bedeutete, dass sie weder richtig gehen noch reden noch atmen noch weinen konnte, also alles wie gehabt –, daher betrat er ausnahmsweise nicht die Szene einer Katastrophe, sondern nur das in Zeitlupe sich entfaltende Desaster dessen, was sie als ihr alltägliches Leben zu akzeptieren gelernt hatten. Flickas finsterer Blick war Begrüßung genug. Andere aus der FD-Gruppe stellten ihre Kinder als leuchtende Engel dar, die ihr Leiden auf sich nahmen und den ganzen Haushalt mit Dankbarkeit erfüllten, weil sie noch einen weiteren glorreichen Tag auf Erden erleben durften – Jackson hatte immer den Verdacht gehabt, dass diese Eltern logen. Aber selbst wenn dieser muntere Jasagertyp wirklich existierte, war Jackson froh, stattdessen ein griesgrämiges und von frühester Jugend an misanthropisches Kind bekommen zu haben.
    Flicka saß schief und vornübergebeugt am Küchentisch über ihren Hausaufgaben und ließ verachtungsvoll ein Rinnsal Speichel auf ihre Unterlagen tropfen. Sie hätte es wegwischen können, bevor es auf ihre Gleichungen traf, ließ die Ziffern jedoch absichtlich unter der Spucke verschwimmen. »Ich frag mich, wieso ich diese Formeln lernen muss, wenn ich sowieso nicht lange genug leben werde, um den Scheiß anzuwenden«, grummelte sie.
    »Falls es dich tröstet«, sagte Jackson, »werden deine Mitschüler, die alle neunzig Jahre alt werden, diese Formeln genausowenig brauchen wie du.«
    »Ich finde, wenn ich womöglich jeden Moment tot umfalle, sollte ich eigentlich machen dürfen, was ich will. Mein Leben ist gerade mal so lang wie das eines Hundes, und ich muss Hausaufgaben machen.«
    »Wenn wir dich leben ließen wie einen Hund – ohne Schulbildung –, würdest du nicht mal wissen, was du machen wollen würdest.«
    »Ich würde lieber Friends gucken.«
    »Du bist ein kluges Kind. Friends würde dich bald langweilen.«
    »Ist doch alles Betrug«, sagte Flicka beharrlich. »Es geht doch gar nicht um mich, sondern um dich und Mama. Ich soll so tun, als wäre ich ein ganz normales Kind. Damit ihr so tun könnt, als hättet ihr eine ganz normale Familie. Als würde ich irgendwann meinen Abschluss machen und studieren und heiraten und Kinder kriegen. Als würde ich die Schreihälse überhaupt haben wollen; will ich nämlich gar nicht. Alles Lüge, und mir hängt’s zum Hals raus. Und ich warne dich. Irgendwann spiel ich nicht mehr mit.«
    Das Dumme war, dass Jackson ihr recht geben musste. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, wenn sie Flickas »Unschuld« – sprich: Unwissenheit – bewahrt hätten, aber heutzutage mit dem Internet konnte man vor den Kindern ja nichts mehr geheimhalten. 1996 hatten er und Carol sich bei ihrem ersten Internetprovider angemeldet, ein Entschluss mit fatalen Folgen. Flicka hatte den Bogen schnell rausgehabt, und eine ihrer ersten Eingaben in eine der frühen Suchmaschinen – Northern Light oder AltaVista – war der Name ihrer Krankheit

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