Diesseits Des Mondes
an, Sharon zum Zug zu bringen, und Birke verabschiedete sich, Sharon umarmend. Ich beneide Sie, sagte Birke, und es klang aufrichtig und traurig.
»Ich beneide Sie auch, ich beneide Ihren Freund, zu dem Sie jetzt fahren«, sagte Krug zu Sharon. Und: »Als ich Sie das erste Mal im Number Six sah, gingen Sie mir tagelang nicht aus dem Kopf. Ich glaubte, ich hätte noch nie eine Frau wie Sie gesehen. Oder ein Mädchen wie Sie. Ich war dann öfter im Number Six, hab Sie gesehen, wenn Sie auftraten, hab auch den Baron gesehen. Auch die sanfte Freundlichkeit, die Sie im Umgang mit ihm hatten. Damals habe ich geglaubt, dass Sie eine Frau sind, die sich niemandem öffnet. Seit heute weiß ich, dass ich mich geirrt habe. Ein Kind könnte sehen, dass Sie lieben. Und mir ist dabei etwas über mich selbst klar geworden. Manchmal wird man an einem Tag zwanzig Jahre älter; mir ist klar geworden, dass ich immer noch auf ein Wunder gewartet habe. Obwohl ich weiß, dass ich Birke liebe, dass ich damit auch nicht aufhören kann, wollte ich das immer wieder leugnen. Ich glaubte an ein Wunder, das sich an mir vollziehen könnte, an ein Märchen, in dem ich der Prinz bin. Ich glaube, davon haben Sie mich geheilt, Sharon.«
Sie schwieg. Im Moment interessierte sich Sharon mehr für Birke als für Krug, Birke war ihr näher. Sie hatten fast einen Tag und eine Nacht lang miteinander geredet. Sharon konnte über ihre Einsamkeit sprechen, Birke über ihre Ehe mit Krug. Ich war noch nie so allein wie am Tag unserer Hochzeit, hatte Birke gesagt. Grotesk. Als die Glocken läuteten, hätte ich heulen können. Ich habe aber gelacht. Und dann habe ich mit einem Vetter von Michael Rock ’n’ Roll getanzt. Wie besessen Rock ’n’ Roll. Michael kann nicht tanzen. Er ging dann ins Bett, von allen gefrotzelt ging ich halt mit, obwohl ich viel lieber weitergetanzt hätte. Mein Herz wurde immer kälter, meine Füße auch. Michael schlief sofort ein. Wir haben uns nicht berührt, wochenlang nicht. Als wir zum ersten Mal miteinander geschlafen haben, kannten wir uns mehr als sechs Jahre und waren zwei Monate verheiratet. Entsprechend war es dann auch.
Birke hatte so ein helles Kinderlachen. Sie schien Sharon stark zu sein, eigenwillig und frei. Krug dagegen schien ihr wie ein Gefangener, der offenbar von seinen Frauen erwartete, dass sie ihn befreiten. Doch Sharon konnte sich vorstellen, dass auch mit Krug gut reden war. Sie freute sich, bei ihm zu wohnen. Sie freute sich über so viele Dinge, die ihr in der letzten Zeit passierten, sie glaubte sich fast unfähig, so viel Freude auszuhalten.
Krug half ihr aus dem Wagen, trug die Reisetasche. Der Zug stand schon auf dem Perron. Sharon stieg in den Kurswagen München – Ventimiglia, sie hatte eine Platzkarte. Krug schärfte ihr ein, gut auf Geld, Gepäck und Pass achtzugeben. In diesem Zug wird wieverrückt geklaut, sagte Krug. Er spürte, dass er sich wie ein besorgter Ehemann verhielt, und Sharon dankte ihm, indem sie ihn spontan umarmte.
Dann war Sharon froh, allein zu sein. Allein mit ihren Gedanken an Alexander. Morgen, gegen zehn Uhr, würde sie bei ihm sein. Ein Gedanke, so groß, dass er nicht hineinpasste in Sharons Kopf. Sie musste ihn verdrängen, sie musste die Zeit bis morgen früh herumbringen, die Zeit totschlagen. Die Deutschen haben so schreckliche Begriffe, die Zeit totschlagen, schauerlich, herumbringen, das klingt wie umbringen, doch heute, jetzt möchte Sharon zum ersten Mal auch die Zeit totschlagen, herumbringen, umbringen. Die Zeit, die sie von Alexander trennt. Wie hat sie es nur ausgehalten bis heute?
Sharon holt seine Briefe heraus, es sind vier Briefe und sechs Karten, die Alexander innerhalb einer knappen Woche geschrieben hatte: Sharon, Liebste! Wenn Du kommst ... hoffentlich flippen wir nicht aus vor Glück. Ich will nicht ausflippen, ich will leben mit Dir. Du erfüllst alle meine Vorstellungen.
Gestern Abend um zehn Uhr ist Aldo raufgekommen zu mir, in strömendem Regen, Gewitter, Blitz und Donner. Hoon!, hat er vor der Tür gerufen, ich hab aufgemacht, und da stand er tropfnass mit Deinem Brief in der Hand. Wie im schlechten Roman: Der ligurische Bauer eilt durch Nacht und Regen und Gewitter, um Alexander einen Brief von Sharon zu bringen, weil sein Herr vor Sehnsucht krank ist nach seiner Liebsten. Wie oft ich den Brief bis jetzt gelesen hab? Zwanzigmal, dreißigmal. Und dann, um mich total in den Liebeswahnsinn zu treiben, hast Du mir auch noch Bilder
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