Diesseits Des Mondes
von Dir geschickt. Sharon, mach sowas bitte nicht mehr, ich halt das nicht aus, oder doch, mach es doch, es ist ein süßer Wahnsinn. Du machst mich jetzt schon so glücklich, wie ich noch nie in meinem Leben war – wie soll das denn weitergehen, da werden ja die Götter neidisch. Ich kann jetzt nicht mehr schreiben. Ich muss Dich endlich sprechen, riechen, fühlen, schmecken. Hab ich schon gesagt, dass ich Dich mit achtzig immer noch lieben werde? Da hab ich aber stark untertrieben. Gut, okay, ich weiß auch, dass normalerweise die erste Verliebtheit, der süße Wahnsinn, nach einiger Zeit nachlässt. Aber da unsere Geschichte so gar nichts mit einer normalen Liebesgeschichte zu tun hat, gilt auch dieses Naturgesetz für uns nicht. Dies ist wahr, Gottverdammich. Oder auch lieber nicht. Wenn, dann uns beide. Dein Alexander Maximilian Gabriel.
So und ähnlich lauteten alle Briefe Alexanders. Sharon war von jedem so erfüllt, dass sie ihre eigenen dürren Worte Alexander gar nicht schreiben wollte. Ihr schien es unmöglich, auch nur annähernd ihre Gefühle zu schildern, ihre Freude, ihre Sehnsucht, ja, es war eine Sehnsucht, die an Wahnsinn grenzte, an den süßen Wahnsinn, von dem Alexander schrieb.
Der Zug hatte den Bahnhof verlassen. Es dämmerte, Sharon war allein im Abteil und hoffte, dass sie schlafen könne bis Arma di Taggia. Angesteckt von Krugs Sorge hatte sie ihre Reisetasche zwischen sich und die Wand gedrückt, so dass niemand sie berauben konnte, es sei denn, er ließe es auf einen Kampf mit Sharon ankommen. In dem Moment, da Sharon sich versuchsweise zum Schlafen einrollte, kam ein Mann ins Abteil. Er kam herein, Sharon den Rücken zuwendend, er zog die Vorhänge beiderseits der Schiebetürzu. Alles mit dem Rücken zu Sharon, die das nicht begriff. Dann setzte er sich in die äußerste Ecke, legte sich eine Zeitung übers Gesicht und atmete hörbar. Er schien alt zu sein und sicherlich krank oder entstellt. Weshalb hielt er sonst die Zeitung ständig vor sein Gesicht. Ihr, Sharon, konnte es gleichgültig sein. Sie wollte ohnehin nur die Augen schließen und an Alexander denken. Alles war so unwirklich. Dass sie hier in diesem Zug saß, durch eine blauschwarze Sommernacht fuhr, dass sie zu einem Mann fuhr, den sie zwei Stunden lang gesehen hatte und den sie ersehnte wie noch niemanden in ihrem Leben. Sie hatte sich so oft vorgestellt, wie es sein könnte, wenn Alexander sie in die Arme nähme, doch dann hatte sie den Gedanken, das Bild wieder verdrängt, da sie ein tiefes Misstrauen hatte gegen ihre Wünsche und Träume. Sie fürchtete, dass Alexander und mit ihm die Liebe ihr wieder abhanden kommen könnten. Und diesmal für immer und unwiederbringlich.
Draußen im Gang erhob sich plötzlich Lärm, Schreien, Weinen. Eine Frau lief am Abteil vorbei und schrie, dass sie bestohlen worden sei, ihr Geld, ihre Pässe, die Fahrkarten, alles sei weg. Sie schrie es in Englisch, Sharon hörte, dass sie Israeli sein musste. Sie lief der Weinenden nach, die umso verzweifelter war, weil ihr Mann, als der Diebstahl bemerkt wurde, am nächsten Bahnsteig ausgestiegen war, um die Bahnpolizei zu alarmieren. Und nun sei der Zug abgefahren und ihr Mann sei noch in dem Bahnhofsgebäude. Die Frau, die Raya hieß, weinte immer verzweifelter. Sharon nahm sie mit zu sich ins Abteil, der Schnaufende verließ daraufhin sofort seinen Platz, Glück im Unglück. Raya erzählte, dass sie nach FinaleLigure wollten, sie und Keren, ihr Mann. Und jetzt? Sharon riet ihr, nach Finale Ligure zu fahren und dort auf ihren Mann zu warten. Sie gab Raya einen Teil der Lire, die sie in München bei der Bank besorgt hatte. Inzwischen kam auch der Schaffner, er war von dem Bahnhof aus angerufen worden, Raya solle sich keine Sorgen machen, ihr Mann komme mit dem nächsten Zug, morgen Mittag sei er da. Zu Sharons Überraschung schlief Raya, den Kopf an Sharons Schulter gelehnt, rasch ein. Auch Sharon duselte, und aus allen Geräuschen des Zuges hörte sie Alexander, Alexander, Alexander.
Arma di Taggia, las Sharon in schwarzer Schrift auf dem weißen Putz des Bahnhofsgebäudes. Das Herz schlug ihr jetzt bis zum Hals. Sharon fürchtete sich auszusteigen, es war, als fürchte sie, aus einem Traum aufzuwachen. Sharon hörte nicht mehr den Dank Rayas, ihre guten Wünsche, sie fühlte für einen Moment nichts als Furcht. Sie spürte, dass sie zitterte, die Anstrengung, ruhig zu erscheinen, war so groß, dass Sharon sich richtig darauf
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