Diesseits vom Paradies
Kopf in der Tür, fünf Minuten nachdem die Lichter ausgegangen waren.
»Klar.«
»Dann komm ich ’n Moment rein.«
»Nimm dir doch ein paar Kissen, und mach’s dir auf der Fensterbank gemütlich.«
Amory setzte sich im Bett auf und zündete eine Zigarette an, während Rahill sich zu einer längeren Unterredung niederließ. Sein Lieblingsthema waren die Zukunftsaussichten der sechsten Klasse, und Amory wurde nicht müde, sie ihm zu Gefallen auszumalen.
[56] »Ted Converse? Klarer Fall. Der fällt durchs Examen, büffelt den ganzen Sommer in Harstrum, schafft’s mit vier Nachprüfungen in Sheff und fliegt mitten im ersten Jahr raus. Dann geht er zurück in den Westen und veranstaltet da mindestens ein Jahr lang ein Höllenspektakel, bis sein Vater ihn so weit hat, dass er ins Farbengeschäft eintritt. Heiratet, kriegt vier Söhne, alles Holzköpfe. Denkt immer, dass St. Regis ihn verdorben hat, also schickt er seine Söhne als Externe auf die Schule in Portland. Stirbt mit einundvierzig an lokomotorischer Ataxie, und seine Frau spendet der presbyterianischen Kirche einen Taufständer oder wie die Dinger heißen, mit seinem Namen drauf –«
»Hör auf, Amory. Das klingt ja schauerlich. Wie steht’s denn mit dir?«
»Ich gehöre einer höheren Klasse an. Du auch. Wir sind Philosophen.«
»Ich nicht.«
»Doch, du auch. Du bist ein verdammt gescheiter Kopf.« Dabei wusste Amory genau, dass Abstraktionen, Theorien und Generalisierungen Rahill absolut nichts sagten, bis er nicht mit der Nase auf konkrete Einzelheiten gestoßen wurde.
»Bin ich nicht«, beharrte Rahill. »Ich werd hier nur ausgenutzt und hab überhaupt nichts davon. Verdammt noch mal, für meine Freunde bin ich der Dummkopf, der ihnen ihre Hausaufgaben schreibt, ihnen aus Schwierigkeiten raushilft, sie in ihren langweiligen Sommerferien besucht und ihre kleinen Schwestern bei Laune hält; wenn sie unverschämt werden, sag ich nichts dazu, und dann denken sie, sie tun mir was Gutes, wenn sie für mich stimmen und [57] behaupten, ich wär der Big Man in St. Regis. Ich möchte irgendwohin gehen, wo jeder seine eigenen Angelegenheiten erledigt und wo ich den Leuten sagen kann, wo sie sich hinscheren können. Ich hab’s satt, zu jedem kleinen Fisch in der Schule nett zu sein.«
»Du bist eben kein Slicker«, sagte Amory unvermittelt.
»Kein was?«
»Kein Slicker.«
»Was zum Teufel ist denn das?«
»Das ist was – das – davon gibt’s jede Menge. Du bist keiner, und ich auch nicht, aber ich bin es mehr als du.«
»Wer ist denn einer? Wie wird man das?«
Amory überlegte.
»Na ja, ich denke, ein sicheres Zeichen dafür ist, wenn einer sich das Haar mit Wasser glatt nach hinten kämmt.«
»Wie Carstairs?«
»Ja, genau. Der ist ein Slicker.«
Sie brachten zwei Abende damit zu, eine genaue Definition zu finden. Der Slicker sah gut aus oder zumindest adrett; er hatte Talent – das hieß gesellschaftliches Talent, und bediente sich auf dem breiten Pfad der Tugend aller Mittel, um vorwärtszukommen, beliebt und bewundert zu sein und niemals in Schwierigkeiten zu geraten. Er war gut gekleidet, legte besonderen Wert auf eine makellose Erscheinung und hatte seinen Namen daher, dass er das Haar unbedingt kurzgeschnitten trug, in der Mitte gescheitelt und mit Wasser oder Brillantine glatt zurückgekämmt, wie die herrschende Mode es vorschrieb. In diesem Jahr trugen die Slicker als gemeinsames Kennzeichen Schildpattbrillen, was sie so leicht erkennbar machte, dass Amory und Rahill [58] keiner entging. Der Slicker war offenbar an der ganzen Schule verbreitet, immer etwas schlauer und durchtriebener als seine Altersgenossen, er leitete ein Team oder sonst etwas und war bemüht, seine Klugheit sorgfältig verborgen zu halten.
Amory empfand den Slicker bis zu seinem ersten Jahr im College als höchst nützliche Klassifikation; erst dort wurde es schwierig, ihn als Typ klar herauszufiltern, so dass die Definition vielfach unterteilt werden musste und schließlich nur noch eine Eigenschaft bezeichnete. Amorys geheimes Ideal beinhaltete alle Komponenten des Slickers, doch zusätzlich Mut, enorme geistige Fähigkeiten und Talente – Amory gestand ihm auch einen Zug ins Komische zu, der mit dem echten Slicker an sich nicht zu vereinbaren war.
Dies war ein erster wirklicher Bruch mit der heuchlerischen Schultradition. Der Slicker war eindeutig auf Erfolg ausgerichtet und unterschied sich grundlegend vom Big Man, dem Ideal der prep school.
Der
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