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Diesseits vom Paradies

Diesseits vom Paradies

Titel: Diesseits vom Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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begnügte sich Amory damit, ihn einmal in der Woche zu besuchen und ihn gelegentlich nach Univee 12 mitzunehmen. Dies rief gelindes Gekicher bei den anderen Freshmen hervor, die die beiden »Doktor Johnson und Boswell« nannten.
    Alec Connage, ebenfalls häufiger Gast, mochte ihn auf irgendeine Art, fürchtete ihn jedoch als Intelligenzbestie. Kerry, der sein poetisches Geschwätz durchschaute und die soliden, ja beinahe rechtschaffenen inneren Tiefen dahinter erkannte, amüsierte sich königlich über ihn und ließ ihn [83] stundenlang Gedichte rezitieren, während er mit geschlossenen Augen auf Amorys Sofa lag und zuhörte.
    Schläft oder wacht sie? Denn ihr Hals
    trägt doch das Purpurmal des allzu heftigen Kusses,
    in dem gequält das Blut stockt und versiegt;
    sanft, so sanft gebissen – und schöner noch durch dieses Mal…
    »Das ist gut«, bemerkte Kerry sanft. »Das gefällt Holiday dem Älteren. Das muss ein großer Dichter sein.« Und Tom, hocherfreut, ein Publikum zu haben, las rauschhaft die Gedichte und Balladen vor, bis Kerry und Amory sie fast so gut kannten wie er selbst.
    Amory machte sich daran, an Frühlingsnachmittagen in den Gärten der großen Landsitze in der Nähe von Princeton Gedichte zu schreiben, während Schwäne in künstlichen Teichen für eine stimmungsvolle Kulisse sorgten und träge Wolken friedlich über den Weiden dahinsegelten. Zu bald schon kam der Mai, und mit einem Mal konnte er keine Wände mehr ertragen und durchwanderte den Campus zu jeder Tages- und Nachtzeit, bei Sternenlicht und Regen.
    Ein feuchtes, symbolisches Zwischenspiel
    Die Abendnebel sanken nieder. Wogten vom Mond herab, ballten sich zu dichten Schwaden um die Dächer und Türme und ließen sich darauf nieder, während die verträumten Turmspitzen in luftiger Höhe in den Himmel stachen. [84] Gestalten, die den Tag mit ihrem Ameisengewimmel sprenkelten, huschten nun als schattenhafte Geister vorbei, mal nah, mal fern. Die gotischen Hallen und Arkaden schienen unendlich viel geheimnisvoller, wie sie so plötzlich aus der Dunkelheit aufragten, von Myriaden schwach leuchtender gelber Rechtecke erhellt. Aus unbestimmter Richtung schlug eine Glocke die Viertelstunde, und Amory blieb bei der Sonnenuhr stehen und streckte sich im feuchten Gras aus. Die Kühle tat seinen Augen wohl und hielt den schnellen Lauf der Zeit an – der Zeit, die an den müßigen Aprilnachmittagen so heimtückisch verstrichen war, die im lang anhaltenden Zwielicht der Frühlingsabende so ungreifbar schien. Abend für Abend war der Gesang der älteren Semester in melancholischer Schönheit über den Campus zu ihm gedrungen und hatte durch den Panzer seines studentischen Selbstbewusstseins ein neues Gefühl brechen lassen, eine tiefe und ehrfürchtige Verehrung für die grauen Mauern und gotischen Spitzen und alles, was sie als Bewahrer vergangener Zeiten symbolisierten.
    Angesichts des Turmes, der sich vor seinem Fenster emporreckte, höher und höher, bis seine äußerste Spitze fast mit dem Morgenhimmel verschmolz, befiel ihn eine erste Ahnung, wie vergänglich und unbedeutend die Campusbewohner doch waren, außer als Träger der apostolischen Nachfolge. Ihm behagte das Wissen, dass die gotische Architektur in ihrem Aufwärtsstreben besonders gut zur Universität passte, und die Vorstellung wurde ihm vertraut. Die stillen Grünflächen, die ruhig daliegenden Hallen, in denen mitunter ein einsames Licht von später Gelehrsamkeit zeugte, ergriffen heftig Besitz von seiner Phantasie, und die [85] makellose Reinheit der Turmspitze wurde zum Symbol für diese Wahrnehmung.
    »Verdammt noch mal«, flüsterte er hörbar, benetzte seine Hände mit dem Tau und fuhr sich damit durchs Haar. »Im nächsten Jahr werde ich arbeiten!« Dabei wusste er genau, dass er vor dem Geist der Türme und Spitzen, der ihn in eine träumerisch nachgiebige Stimmung versetzte, später zurückschrecken würde. Jetzt war er sich nur seiner Inkonsequenz bewusst, doch wenn er sich anstrengte, würden auch sein Unvermögen und seine Unzulänglichkeit zutage treten.
    Das College träumte fort – im Wachen. Er spürte seinen langsamen Pulsschlag als nervöse Erregung in sich. Es war ein Strom, dessen Oberfläche sich nur leicht kräuselte, wenn er einen Stein hineinwarf, der, kaum dass er seine Hand verlassen hatte, spurlos verschwunden sein würde. Bisher hatte er nichts gegeben und nichts genommen.
    Ein verspäteter Freshman, dessen Ölmantel vernehmlich raschelte, patschte

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