Diesseits vom Paradies
zuvor war sie so besorgt um ihr Aussehen gewesen und nie zuvor so damit zufrieden. Vor einem halben Jahr war sie sechzehn Jahre alt geworden.
»Isabelle!«, rief ihre Cousine Sally vom Eingang zum Ankleidezimmer.
»Ich bin fertig.« Sie hatte vor Nervosität einen leichten Kloß im Hals.
»Ich musste noch mal nach Hause schicken, um ein anderes Paar Schuhe zu holen. Es dauert nur eine Minute.«
Isabelle wandte sich zum Ankleidezimmer, um einen letzten Blick in den Spiegel zu werfen, doch etwas bewog sie, stehenzubleiben und über die breite Treppe des Minnehaha-Clubs hinunterzuschauen. Ärgerlicherweise machten die Stufen eine Kurve, und sie konnte unten in der Halle nur zwei Paar männliche Füße erspähen. Die uniformen schwarzen Halbschuhe gaben keinerlei Hinweis auf die Person ihres Trägers, doch fragte sie sich gespannt, ob wohl das eine Paar zu Amory Blaine gehörte. Obwohl sie ihm noch nicht [95] begegnet war, hatte dieser junge Mann schon einen beträchtlichen Teil ihres Tages in Anspruch genommen – des ersten Tages seit ihrer Ankunft. Schon im Auto auf dem Weg vom Bahnhof war Sally herausgeplatzt, während sie sie noch mit Fragen, Erzählungen, Enthüllungen und übertriebenen Geschichten überschüttete:
»Du erinnerst dich doch noch an Amory Blaine. Also, er ist ganz verrückt darauf, dich wiederzusehen. Er ist extra einen Tag länger vom College weggeblieben, und heute Abend kommt er. Er hat schon so viel von dir gehört und sagt, dass er sich an deine Augen erinnert.«
Das hatte Isabelle gefallen. Es klärte die Fronten zwischen ihnen, obwohl sie durchaus fähig war, ihre Liebesaffären selbst zu arrangieren, mit oder ohne vorherige Ankündigung. Doch dann befiel sie anstelle der freudig-erwartungsvollen Spannung ein beklemmendes Gefühl, das sie fragen ließ:
»Was meinst du damit, er hat viel von mir gehört? Was für Sachen hat er gehört?«
Sally lächelte. Sie genoss es, ihre ziemlich extravagante Cousine möglichst wirkungsvoll in Szene setzen zu können.
»Er weiß, dass – dass du hübsch bist und so weiter« – sie schwieg einen Moment –, »und ich nehme an, er weiß auch, dass du schon geküsst worden bist.«
Hierbei hatte sich Isabelles kleine Faust plötzlich unter der Felldecke zusammengekrampft. Sie war daran gewöhnt, von ihrer verwegenen Vergangenheit eingeholt zu werden, und es weckte immer denselben Groll in ihr; doch in einer fremden Stadt war ein solcher Ruf von Vorteil. Sie war also »leicht zu haben«? Na – sie würden’s schon erleben.
[96] Isabelle sah im frostigen Morgenlicht den Schnee am Fenster vorübergleiten. Es war hier so viel kälter als in Baltimore, das hatte sie vergessen; die Seitentür war vereist, und in den Ecken der Fenster hatte sich Schnee zusammengeballt. Ihre Gedanken spielten noch immer mit dem einen Thema. Ob er sich so kleidete wie dieser Junge dort, der gelassen eine belebte Geschäftsstraße entlangschlenderte – in Mokassins und einer Art winterlichem Karnevalskostüm? Typisch Westküste! Natürlich war er nicht so: Schließlich ging er nach Princeton, war dort ein Sophomore oder so was. Sie hatte wirklich keine genaue Vorstellung von ihm. Auf einem längst vergilbten Schnappschuss, den sie in einem alten Kodakalbum aufbewahrte, hatten sie seine großen Augen beeindruckt (denen er mittlerweile vermutlich an Größe nachgewachsen war). Jedenfalls hatte er im vergangenen Monat, seit ihr Winterbesuch bei Sally beschlossen war, die Ausmaße eines ernst zu nehmenden Gegenspielers angenommen. Kinder sind die durchtriebensten Kuppler und ersinnen ihre Anschläge in Windeseile, und Sally hatte in ihrer Korrespondenz mit Isabelle alle Register gezogen, die ihre Wirkung auf Isabelles leicht erregbares Temperament nicht verfehlten. Schon seit einiger Zeit war Isabelle sehr starker, wenn auch sehr flüchtiger Gefühle fähig…
Sie hielten vor einem weitläufigen, weißen Gebäude, das etwas zurückgesetzt an der schneebedeckten Straße lag. Mrs. Weatherby begrüßte sie herzlich, und ihre verschiedenen jüngeren Cousins und Cousinen wurden aus den Ecken hervorgeholt, in die sie sich artig verdrückt hatten. Isabelle ging ihnen taktvoll entgegen. Wenn sie wollte, nahm sie alle für sich ein, denen sie begegnete – außer älteren Mädchen [97] und bestimmten Frauen. Alle ihre Wirkungen waren sorgfältig von ihr berechnet. Das halbe Dutzend Mädchen, mit dem sie an diesem Morgen die Bekanntschaft erneuerte, war überaus beeindruckt, und zwar
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