Diesseits vom Paradies
mindestens ebensosehr von ihrer persönlichen Ausstrahlung wie von ihrem Ruf. Amory Blaine war überall Gesprächsthema. Offenbar sehr locker in Liebesdingen, weder beliebt noch unbeliebt – jedes der Mädchen schien zu irgendeiner Zeit eine Affäre mit ihm gehabt zu haben, doch keine wollte wirklich mit der Sprache herausrücken. Er musste sich einfach in sie verlieben… Sally hatte diese Informationen an ihre junge Clique weitergegeben, und diese erzählte wiederum alles Sally, sobald sie Isabelle zu Gesicht bekommen hatten. Isabelle beschloss im Geheimen, dass sie sich notfalls zwingen würde, ihn zu mögen – das war sie Sally schuldig. Doch angenommen, sie wäre schrecklich enttäuscht von ihm? Sally hatte ihn in so glühenden Farben geschildert – er sah gut aus, konnte »distinguiert sein, wenn er wollte«, hatte seine Masche und war ziemlich unberechenbar. Kurz, er vereinte in sich alle romantischen Eigenschaften, nach denen sie sich aufgrund ihres Alters und ihrer Herkunft sehnte. Sie fragte sich, ob es wohl seine Tanzschuhe waren, die sich dort zögernd im Foxtrottschritt auf dem weichen Teppich bewegten.
Alle Eindrücke und all ihre Vorstellungen schwirrten in Isabelles Kopf kaleidoskopartig durcheinander. Sie verfügte über diese seltsame Mischung aus gesellschaftlichen und künstlerischen Begabungen, die man oft in zwei Schichten findet: bei Damen der Gesellschaft und bei Schauspielerinnen. Ihre Bildung, oder besser ihre Verbildung, war völlig von den Jungen bestimmt, die sich bisher um ihre Gunst [98] gerissen hatten; sie war von einem instinktiven Feingefühl geleitet, und der Umfang ihrer Liebesaffären war nur durch die Anzahl der dafür in Frage Kommenden, die in telefonischer Reichweite waren, begrenzt. Die Lust am Flirt leuchtete aus ihren großen, schwarzbraunen Augen und schimmerte durch ihre intensive sinnliche Anziehungskraft.
So wartete sie also an diesem Abend oben am Treppenabsatz, während die Schuhe geholt wurden. Als sie gerade ungeduldig zu werden begann, kam Sally aus dem Ankleidezimmer, wie immer guten Mutes und strahlender Laune, und gemeinsam gingen sie hinunter in das untere Stockwerk, während in Isabelles unaufhörlich rotierendem Hirn zwei Gedanken aufblitzten: Sie war froh über ihre glühenden Wangen an diesem Abend, und sie fragte sich, ob er wohl gut tanzte.
Unten im großen Clubraum umringten sie für einen Moment die Mädchen, denen sie schon am Nachmittag begegnet war, dann hörte sie Sally eine Reihe von Namen hersagen und sah sich einem Sextett schwarz und weiß gekleideter, fürchterlich steifer, entfernt bekannter Gestalten gegenüber, denen sie zunickte. Irgendwo fiel auch der Name Blaine, doch konnte sie ihn zunächst nicht zuordnen. Einen Augenblick lang herrschte sehr verwirrtes, jugendlich unbeholfenes Durcheinander, allgemeines Zurücktreten und Irgendwo-Anstoßen, bis sich schließlich jeder im Gespräch mit der Person wiederfand, nach der es ihn am wenigsten verlangt hatte. Isabelle setzte sich mit Froggy Parker, Freshman in Harvard, mit dem sie einst Himmel und Hölle gespielt hatte, auf die Treppe. Eine witzige Anspielung auf die Vergangenheit war alles, was sie benötigte. Was Isabelle in [99] Gesellschaft aus einem einzigen Einfall machen konnte, war bemerkenswert. Zunächst wiederholte sie ihn entzückt mit ihrer enthusiastisch klingenden tiefen Altstimme, in der eine Spur von südlichem Akzent mitschwang; dann hielt sie ihn weit von sich weg und lächelte ihn an – mit ihrem wundervollen Lächeln; dann gab sie ihn in mehreren Variationen zum besten und spielte eine Art geistiges Hasch-mich-Spiel mit ihm – und dies alles in Form eines sogenannten Dialoges. Froggy war hingerissen und bemerkte kaum, dass das Ganze nicht ihm galt, sondern den grünen Augen, die unter glänzendem, sorgfältig mit Brillantine geglättetem Haar hervorblitzten – denn Isabelle hatte links von sich Amory entdeckt. Wie eine Schauspielerin auch in der größten Aufwallung ihrer magnetischen Kräfte einen ziemlich genauen Eindruck von den meisten Zuschauern in der ersten Reihe gewinnt, so taxierte Isabelle ihren Gegenspieler. Zunächst einmal hatte er kastanienbraunes Haar, und ein Gefühl der Enttäuschung sagte ihr, dass sie erwartet hatte, er wäre dunkelhaarig und so schlank wie aus der Strumpfbandwerbung… Ansonsten – leicht errötet, mit einem klaren, vielversprechenden Profil, das sich deutlich von dem gutsitzenden Abendanzug und dem seidenen Rüschenhemd
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