Diesseits vom Paradies
Stadt, einen Mann, der Gewohnheitstrinker war und hier wie andernorts berüchtigt dafür, einen Abend lang ihr gegenüberzusitzen und mit einer Art unschuldiger Begeisterung über Mädcheninternate zu diskutieren. Welch überraschende Wendungen kamen Clara in den Sinn! Sie konnte aus der fadesten Luft, die je einen Salon durchweht hatte, faszinierende und nahezu brillante Konversation machen.
Die Vorstellung, dass das Mädchen in tiefste Armut verstrickt war, hatte Amorys Sinn für Dramatik angesprochen. Er kam mit der Erwartung in Philadelphia an, dass Ark Street 921 ein Elendsquartier in einer heruntergekommenen Straße wäre. Er war sogar enttäuscht, als sich herausstellte, dass es keineswegs so war. Sie wohnte in einem alten Haus, das sich seit Jahren im Besitz der Familie ihres Mannes befand. Eine ältliche Tante, die sich geweigert hatte, es zu verkaufen, hatte die Steuern für die nächsten zehn Jahre bei einem Rechtsanwalt hinterlegt und war nach Honolulu abgedampft. Sie überließ es Clara, sich, so gut sie konnte, mit dem Heizungsproblem herumzuschlagen. Es begrüßte ihn keine wildzerzauste, traurig dreinblickende Frau mit einem Baby an der Brust. Vielmehr hatte Amory bei seinem Empfang den Eindruck, dass sie auf dieser Welt nicht die geringsten Sorgen habe.
Eine ruhevolle Kraft und ein verträumter Humor – in starkem Kontrast zu ihrer Nüchternheit –, in diese [206] Stimmungen nahm sie manchmal Zuflucht. Sie konnte äußerst prosaische Dinge tun (obwohl sie klug genug war, sich niemals mit solchen »häuslichen Künsten« wie Stricken oder Stickereien unglaubwürdig zu machen) und unmittelbar darauf ein Buch zur Hand nehmen und ihre Phantasie als ungreifbare Wolke mit dem Wind schweifen lassen. Am eindringlichsten wirkte ihre Persönlichkeit durch das goldene Strahlen, das sie um sich verbreitete. Wie ein offenes Feuer in einem dunklen Raum einen geheimnisvollen und ergreifenden Schein auf die ruhigen Gesichter rundum wirft, warf auch sie Licht und Schatten in die Räume, in denen sie sich aufhielt, bis sie aus ihrem nüchternen alten Onkel einen Mann von drolligem, versponnenem Charme gemacht und den zufällig hereingeschneiten Telegrammboten in ein koboldhaftes Geschöpf von erfrischender Originalität verwandelt hatte. Anfangs irritierte Amory diese Fähigkeit. Er hielt seine eigene Einzigartigkeit für ausreichend, und es brachte ihn ziemlich in Verlegenheit, als sie versuchte, neue interessante Seiten in ihn hineinzulesen, um damit die anderen anwesenden Bewunderer zu vergnügen. Er hatte das Gefühl, als ob ein Regisseur höflich, aber beharrlich versuchte, ihn zu einer neuen Interpretation einer Rolle zu bewegen, die er seit Jahren perfekt beherrschte.
Doch wie Clara sprach, wie sie eine kleine Geschichte über eine Hutnadel, einen betrunkenen Mann und sich selbst erzählte… Die Leute versuchten später, ihre Anekdoten weiterzuerzählen, doch sosehr sie sich bemühten, aus ihrem Mund klangen sie nach nichts. Sie schenkten ihr eine Art unschuldiger Aufmerksamkeit und das schönste Lächeln, das viele von ihnen seit langem gelächelt hatten; Clara [207] hatte für kaum etwas Tränen, doch die Leute lächelten sie mit umflorten Augen an.
Nur sehr selten blieb Amory noch für eine halbe Stunde, wenn der übrige Hofstaat schon gegangen war, und sie aßen Marmeladenbrote zum Tee am späten Nachmittag oder »Ahornzucker-Lunch«, wie sie es nannte, zum Abendbrot.
»Du bist wirklich ungewöhnlich, weißt du das?« Diese Platitüde gab Amory eines Abends um sechs Uhr von sich, als er mitten auf dem Esstisch thronte.
»Kein bisschen«, antwortete sie und sortierte dabei Servietten in der Anrichte. »In Wirklichkeit bin ich völlig langweilig und gewöhnlich. Eine von denen, die sich für nichts anderes interessieren als für ihre Kinder.«
»Das kannst du deiner Großmutter erzählen«, spottete Amory. »Du weißt genau, dass du alles überstrahlst.« Er stellte ihr die eine Frage, von der er wusste, dass sie sie verlegen machen würde. Es war die Frage, die der erste Langweiler schon an Adam gerichtet hatte.
»Erzähl mir etwas von dir.« Und sie gab dieselbe Antwort, die Adam gegeben haben muss.
»Da gibt es nichts zu erzählen.«
Aber schließlich hat Adam dem Langweiler wohl doch alles erzählt, was ihm nachts durch den Kopf ging, wenn im sandigen Gras die Zikaden sangen, und er muss gönnerhaft angemerkt haben, wie anders er war als Eva, dabei aber vergessen haben, wie anders sie war als
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