Diesseits vom Paradies
ich schrecklich eingebildet?«
»Nein – du bist zwar ungeheuer eitel, aber das ist ganz amüsant für Leute, die nur das sehen.«
»Ich verstehe.«
[211] »Tief in deinem Herzen bist du sehr verletzlich. Du versinkst in tiefe Depression, wenn du das Gefühl hast, du seist gekränkt worden. In Wirklichkeit hast du nicht besonders viel Selbstachtung.«
»Zweimal ins Schwarze getroffen, Clara. Wie schaffst du das nur? Du lässt mich doch nie zu Wort kommen.«
»Natürlich nicht – ich kann einen Mann nie nach dem beurteilen, was er sagt. Aber ich bin noch nicht fertig; der Grund, warum du so wenig Selbstvertrauen hast, obwohl du jedem hergelaufenen Spießer allen Ernstes erzählst, dass du dich für ein Genie hältst, ist der, dass du dir alle möglichen scheußlichen Fehler einbildest und ihnen auch noch nachzuleben versuchst. Zum Beispiel behauptest du immer, du seist süchtig nach Highballs.«
»Bin ich auch – jedenfalls latent.«
»Und du behauptest, du seist ein schwacher Charakter, du habest keinen Willen.«
»Kein bisschen Willen – ich bin Sklave meiner Gefühle, meiner Neigungen, meines Abscheus vor der Langeweile, fast aller meiner Begierden…«
»Das bist du nicht!« Sie schlug mit ihrer kleinen Faust auf die andere. »Du bist Sklave, hilflos ausgelieferter Sklave einer einzigen Sache, und das ist deine Phantasie.«
»Du machst mich wirklich neugierig. Wenn es dich nicht langweilt, dann sprich weiter.«
»Mir fällt auf, dass du immer in einer ganz bestimmten Weise vorgehst, wenn du einen Tag länger vom College wegbleiben willst. Nie entscheidest du dich im ersten Augenblick, wenn die Vorteile von Gehen oder Bleiben noch klar in deinem Bewusstsein sind. Stattdessen lässt du deiner [212] Phantasie ein paar Stunden lang freien Lauf, bis sie ganz auf der Seite deiner Wünsche und Begierden steht, und dann erst entscheidest du. Natürlich denkt sich deine Phantasie, wenn du ihr freien Lauf lässt, tausend Gründe aus, warum du besser bleiben solltest, und also fällst du keine wahre Entscheidung. Du bist befangen.«
»Ja, schon«, wandte Amory ein, »aber ist es nicht mangelnde Willensstärke, meine Phantasie in die falsche Richtung laufen zu lassen?«
»Mein lieber Junge, darin liegt dein großer Irrtum. Das hat nichts mit Willensstärke zu tun; das ist ohnehin so ein dummes, nutzloses Wort; dir mangelt es an Urteilsvermögen – das dich sofort entscheiden lässt, da du ja genau weißt, dass deine Phantasie dir ein Schnippchen schlagen wird, sobald du ihr auch nur die geringste Chance gibst.«
»Donnerwetter!«, rief Amory überrascht. »Nicht im Traum hätte ich an so etwas gedacht.«
Clara zeigte keine Schadenfreude. Sie wechselte sofort das Thema. Doch hatte sie ihn nachdenklich gemacht, und er war überzeugt, dass sie teilweise recht hatte. Er kam sich vor wie ein Fabrikbesitzer, der einen Angestellten der Untreue beschuldigt hat und schließlich herausfindet, dass sein eigener Sohn Woche für Woche die Bücher fälscht. Sein armer, misshandelter Wille, den er der eigenen Verachtung wie der seiner Freunde preisgegeben hatte, stand plötzlich makellos vor ihm, und stattdessen wanderte sein Urteilsvermögen ins Gefängnis, begleitet von dem nicht zu bändigenden Kobold, der Phantasie, die schadenfroh höhnend neben ihm hertanzte. Clara war die Einzige, die er je um Rat gebeten hatte, ohne selbst die Antwort [213] vorwegzunehmen – ausgenommen vielleicht seine Gespräche mit Monsignore Darcy.
Wie wundervoll war es, irgendetwas mit Clara zu unternehmen! Mit ihr einkaufen zu gehen war ein einziger traumhafter Genuss. In jedem Geschäft, in dem sie je eingekauft hatte, wurde über die schöne Mrs. Page geflüstert.
»Wetten, dass sie nicht lange allein bleibt.«
»Brauchst es gar nicht so rauszuposaunen – sie hat keine Ratschläge nötig.«
»Ist sie nicht schön?«
(Ein Abteilungsleiter tritt auf – Schweigen, bis er schmunzelnd weitergeht.)
»Sie gehört zur Gesellschaft, hm?«
»Ja, aber verarmt, glaube ich; wird jedenfalls gesagt.«
»Schaut sie euch an, Mädchen, ist sie nicht hinreißend!«
Und Clara strahlte alle gleichermaßen an. Amory war überzeugt, dass die Ladeninhaber ihr Nachlass gewährten, manchmal mit und manchmal ohne ihr Wissen. Er sah, dass sie sich sehr gut kleidete, stets von allem das Beste im Hause hatte und allerwenigstens vom ersten Abteilungsleiter bedient wurde.
Manchmal gingen sie sonntags gemeinsam in die Kirche, und er schritt neben ihr her und
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