Diktator
zerschossener Kniescheibe. Die Zehnte Kompanie hatte einige Gefangene gemacht, Männer in Kampfanzügen, die mit den Händen auf dem Kopf dasaßen, bewacht von weiteren SS-Soldaten. Die Gefangenen waren ein gemischter Haufen, größtenteils ältere Männer, aber auch einige jüngere, vielleicht achtzehn, neunzehn, zwanzig Jahre alt, Männer, die in den Jahren der Besatzung aufgewachsen waren.
Einer von ihnen, ein junger Mann von vielleicht zweiundzwanzig Jahren, kam Ernst bekannt vor.
Er wandte sich an den SS-Wachposten und bot ihm eine Zigarette an. »Darf ich mit dem Mann sprechen?«
Der Wachposten nahm die Zigarette. »Ist mir egal, und für ihn spielt’s auch keine Rolle mehr. Partisanen kriegen nur eine Kugel verpasst, das weißt du.«
Ernst trat vor und hockte sich vor den Mann.
Der Engländer musterte ihn mit einer Art unverschämter Neugier. »Was hast du für ein Problem, Fritz?«
»Ich heiße Ernst Trojan. Ich bin Obergefreiter der Wehrmacht. Mein Englisch scheint dich zu überraschen.«
»Nicht, dass Sie’s sprechen. Es klingt nur so, als hätten Sie sich einen Sussex-Akzent angewöhnt.«
Ernst lächelte. »Würde mich nicht wundern. Ich war einen großen Teil der drei Jahre seit der Invasion bei einer Bauernfamilie in der Nähe von Battle einquartiert. Und dich kenne ich von ihren Fotos. Du bist Jack Miller.«
Jack zog die Augenbrauen hoch.
»Deine Eltern und Geschwister glauben, dass du als Kriegsgefangener auf dem Kontinent bist. Oder vielleicht tot. Sie haben schon lange nichts mehr von dir gehört.«
Jack machte ein zorniges Gesicht, als wäre er getadelt worden. Er war ein junger Mann, aber Ernst erkannte in ihm etwas von der Sturheit seines Vaters. »Na, Sie sehen ja, in welcher Scheiße ich stecke, Obergefreiter. Ich bin damals, ’41, praktisch sofort aus einem Stalag in Hampshire ausgebüxt und von diesen Leuten aufgegabelt worden, und seitdem bin ich mit den Jungs hier zusammen. Ich musste abtauchen, verstehen Sie. Bin Bombenentschärfer geworden, wenn Sie’s wissen wollen. Die alten Knaben brauchen jemanden, der ein bisschen militärische Erfahrung hat und ihnen Mut macht.«
Dieses Geschwätz war an seine Kameraden gerichtet. Sie grinsten. »Ja, ja. Ist genau wie du sagst, alte Plaudertasche.«
»Hast du denn die Briefe bekommen, die sie dir geschickt haben?«
»Nicht, seit ich das Stalag verlassen habe. An einem Ort wie den hier kann man keine Postkarten schicken, oder? Aber wir müssen eben alle unsere Pflicht tun, stimmt’s, Obergefreiter?«
»Das ist wahr.«
Jack zögerte. »Und wie geht’s ihnen? Meinen Leuten?«
Ernst seufzte und fragte sich, wie er die Informationen über die familiären Geschehnisse dreier Jahre – und solch schwieriger obendrein – in ein paar Sätze packen sollte. Und doch musste er es versuchen. »Dein Vater ist gesund. Er schimpft auf die Besatzung.«
»So ist es richtig.«
»Deine Mutter – du hast eine neue kleine Schwester. Myrtle. Sie ist 1941 zur Welt gekommen.«
Jack war perplex. »Das ist ein Schock.«
»Dein Bruder Alfie ist zur HJ gegangen. Ihm blieb nicht viel anderes übrig.«
»Und Viv? Meine Güte, sie muss jetzt siebzehn sein.«
»Der geht’s gut.«
»Ich habe von Ihnen gelesen. In diesen ersten Briefen ins Stalag. Da stand, Sie wären ein anständiger Mann, für einen Deutschen.«
»Ein hohes Lob.«
Fischer stieß Ernst an. »Wir müssen weiter, Trojan.«
Ernst stand auf.
»Herr Obergefreiter …«, begann Jack. »Meine Familie …«
»Ja?«
»Wenn Sie eine Möglichkeit finden, könnten Sie ihnen dann sagen … Sie wissen schon …«
Ernst bemühte sich, seinen ruhigen Ton beizubehalten. »Ja, natürlich. Ich werde ihnen schreiben und ihnen erzählen, wie ich dir begegnet bin. Und wenn dieser ganze Unsinn vorbei ist, trinken wir beide zusammen englisches Bier, zwei alte Männer, die über den Krieg reden.«
»Aber Sie zahlen, verdammt noch mal.«
Ernst ging zu seiner Einheit zurück, die inzwischen aufbruchsbereit war. Die konferierenden Offiziere schienen zu einer Entscheidung gelangt zu sein.
»Und was nun?«, wollte Heinz von Fischer wissen.
»Wir haben neue Befehle«, sagte Fischer. »Wir teilen uns auf. Die Wehrmachtseinheiten marschieren mit den Panzern zum Bunker bei Hastings. Währenddessen begeben sich die SS-Männer und die Parteileute schnellstmöglich in die Stadt, um noch zu den Schiffen zu kommen, bevor der Hafen geschlossen ist.« Jeder wusste, was er meinte: Von den
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