Diktator
das seinerseits aus wiederverwendeten römischen Ziegeln bestand, war ein sehr seltsamer Anblick für Ben.
Aber es war überall an der englischen Küste dasselbe. Man hatte mehr als siebzig Martello-Türme in Dienst genommen, mächtige Bauten aus vornapoleonischer Zeit, als die Briten eine Invasion der Franzosen befürchtet hatten. Nun, nach hundertfünfzig Jahren geduldiger Wachsamkeit, verstummten viele schon nach wenigen Stunden.
»Wir werden dieses Pack heute nicht aufhalten können, Kumpel«, sagte Johnnie Cox. »Jedenfalls nicht auf diese Weise.« Johnnie war Kanadier.
Ben zuckte die Achseln. »Nein, aber das war doch auch nicht der Sinn der Sache, oder?« Ihm fiel der leichte kanadische Tonfall in seiner eigenen Stimme auf; er hatte die Angewohnheit, in einer unbewussten Anpassungsstrategie die Akzente anderer zu übernehmen. »Das hier ist die Küstenkruste; sie soll sie nur bremsen. Aber wenn der Gegenangriff kommt …«
»Welcher Gegenangriff? General Brooke hat gar nicht die Männer dafür, das sage ich dir. Wenn die BEF-Leute nicht auf dem Kontinent eingesperrt wären …«
Ben schüttelte den Kopf. »Weißt du, Johnnie, ich hab in meiner Zeit in England nicht gerade wenige Soldaten kennengelernt, und die sind allesamt elende Jammerlappen. Aber du schießt den Vogel ab. Haben die Briten denn gar keine Chance?«
»Na ja, eine vielleicht. Kommt drauf an, wie brutal sie sind.«
»Brutal? Was meinst du damit?«
»Hast du deine Gasmaske dabei?«
XVII
Es dauerte bis zur Mittagszeit, bis die Bucht von Pevensey gesichert war. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie die Eisenbahnlinie am Haltepunkt überquert und die Straße nach Bexhill unter ihre Kontrolle gebracht, so dass sich die Sturmgruppen endlich zum Weitermarsch formieren konnten. Mittlerweile herrschte längst Ebbe, und die Kähne und Motorboote versuchten verzweifelt, aufs Meer hinauszukommen, denn sie wurden benötigt, um die zweite Angriffswelle herüberzubringen, hatten jedoch Schwierigkeiten, durch die Bootstrümmer und das Gewirr der Leichen in offenes Wasser zu gelangen. Die Verlustrate musste hoch sein, dachte Ernst – ein Viertel, vielleicht sogar ein Drittel dieser ersten Welle; er hatte Glück, dass er noch lebte. Aber er hatte mit ansehen müssen, wie viele Kameraden gestorben waren.
Und dann, nach all dem, vier Stunden, nachdem Ernst von Bord seines Kahns gegangen war, kam das Gas.
Es war nur eine Granate, die ein Blenheim-Bomber auf jenen Strand abwarf, an dem Ernst gelandet war. Sie schien zu detonieren, ohne Schaden anzurichten, und nur wenige Opfer zu fordern. Aber dann breitete
sich das Gas aus, und Männer stürzten schreiend in den Sand und kratzten an ihren Augen und ihrer Blasen werfenden Haut. Jene Offiziere, die schon am Weltkrieg 14/18 teilgenommen hatten, wussten, was es war: Senfgas. Furcht breitete sich unter den Männern aus, die sich immer noch auf den Stränden drängten. Sie griffen hastig nach ihren Gasmasken, voller Angst, sie könnten durch den Kontakt mit dem Meerwasser unbrauchbar geworden sein.
Aber es blieb bei diesem einen Flugzeug, dieser einen Granate. Vielleicht war der Angriff von einer auf eigene Faust agierenden Einheit ausgeführt worden, von illoyalen Offizieren der RAF. Die Briten waren nicht unmenschlich genug, um zu diesem letzten Mittel zu greifen – oder sie hatten, wie manche meinten, nicht genug Mumm dazu.
Wie auch immer, der Vorfall hatte nur zur Folge, dass die Männer wütend wurden. Ernst merkte es an sich selbst.
Er gehörte zu der Gruppe, die Pevensey Castle einnahm. Der Widerstand war nur schwach, und die Gegner ergaben sich rasch, als ein Flammenpanzer durchs Westtor brach. Ernst betrat als einer der Ersten eine Garnison, die in die Ruinen des inneren Burghofs eingebaut war, und er machte persönlich mehrere Gefangene.
Ein kleiner, dunkler Mann in der Uniform der Home Guard wagte es, sie auf Deutsch anzusprechen: »Willkommen in England.« Ernst brachte ihn mit seinem Gewehrkolben zum Schweigen.
XVIII
22. September
Am Sonntag, einen Tag nach dem Beginn der Invasion, ließen die Luftangriffe gegen sieben Uhr morgens ein wenig nach.
Die WVS-Koordinatorin war eine stämmige, energische Frau von ungefähr fünfzig Jahren namens Mollie. Sie schob Mary praktisch weg. »Ruhen Sie sich ein bisschen aus. Es nützt niemandem, wenn Sie sich kaum noch auf den Beinen halten können. Bis Sie zurückkommen, sind die Jerrys bestimmt schon wieder zugange.«
Also gehorchte Mary. Immerhin
Weitere Kostenlose Bücher