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Diktator

Diktator

Titel: Diktator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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hatte sie Freitagnacht gar nicht geschlafen, hatte den ganzen Samstag gearbeitet und war auch in der vergangenen Nacht wach geblieben.
    Sie nahm ihre Sachen, den Rucksack und ihre Handtasche, die Aktentasche, die sie sich mittlerweile mit Hilfe einer Schnur umgehängt hatte, und taumelte nach Hause, zu Georges kleinem Reihenhaus in der Altstadt. Sie brauchte nur wenige Minuten bis dorthin. Tatsächlich schockierte es sie, wie nah all diese Zerstörung und Verletzung, all dieses Sterben an ihr Zuhause herangerückt waren. Es schien, als hätte sich
der ganze Krieg auf diesen kleinen Flecken Englands, auf ihr Leben konzentriert.
    Das Haus selbst sah heil aus. Doch als sie die Haustür zu öffnen versuchte, klemmte diese, und sie musste sie mit der Schulter aufstoßen. Sie spürte, wie der Rahmen splitterte, als die Tür nachgab. Im Flur war es dunkel. Sie drehte den Schalter, aber das Licht ging nicht an.
    Nach all dem Tumult draußen herrschte hier eine geradezu unheimliche Stille. Die Teppiche waren mit einer Patina aus Gipsstaub überzogen. Für die übernächtigte Mary war es sehr seltsam, wieder hier zu sein. Als sie am Freitagabend weggegangen war, hatte sie eigentlich geglaubt, dass sie für lange Zeit nicht mehr zurückkehren würde.
    Sie legte ihre Gasmaske und den Rucksack ab, ließ den Filzhut und die grüne WVS-Jacke fallen, die man ihr geliehen hatte, und ging schnurstracks ins Badezimmer. Die anderen WVS-Frauen hatten sich mit verlegen abgewandtem Blick und manchmal einem Kichern hinter Schutthaufen in den zertrümmerten Ruinen erleichtert, die noch vor kurzem ein Zuhause gewesen waren, und sie hatte es genauso gemacht. Die Toilettenspülung funktionierte, aber sie hörte, dass der Wasserbehälter sich nicht wieder füllte. Das überraschte sie nicht. Selbst inmitten der Luftangriffe hatte sie Teams von Arbeitern gesehen, die Wasser-, Gas-und Stromleitungen zu reparieren versuchten.
    Sie betrachtete sich im Spiegel. Ihr Gesicht war eine Maske aus fettigem Schweiß und Ruß mit Schmierspuren
auf Wangen und Stirn, wo sie mit dem Handrücken darüber gerieben hatte.
    Aus den Hähnen kam kein Tropfen, aber das Wasser, das sie am Freitag hatte einlaufen lassen, stand noch im Waschbecken, überzogen von einer Schicht Gipsstaub. Sie schöpfte den Staub mit der Hand ab und bückte sich, um ihr Gesicht zu benetzen. Das Wasser brannte an ihren Händen. Sie sah, dass sie unter dem Schmutz Blasen hatte, kleine Brandwunden. Aber der Schmutz ging leicht ab, und die Kälte des Wassers belebte sie ein wenig. Sie sehnte sich nach einem Bad und hätte sich gern die Haare gewaschen.
    Sie begab sich in die Küche. Eher hoffnungs- als erwartungsvoll probierte sie den Gasbrenner am Herd, aber auch der funktionierte nicht. Eine Tasse Tee stand also nicht auf der Speisekarte, außer wenn sie im Wohnzimmer Feuer machte und den Eisenständer benutzte. Es schien ein langwieriges Vorhaben zu sein, die Kohle zu holen, Streichhölzer und Papier und Anzündholz zu suchen, um dann Feuer zu machen – und sie kam zu dem Schluss, dass sie dazu jetzt nicht imstande war. Jedenfalls gab es noch Milch und weiteres schaumiges Wasser, und sie wusste, dass auch ein bisschen Brot da war; sie konnte sich ein Sandwich machen.
    Sie hörte die Haustür klappern, dann einen unterdrückten Fluch. Es war George. Sie ging wieder in die Diele hinaus.
    Er experimentierte mit der Tür herum, die nicht mehr in den Rahmen passen wollte. Seine Uniform war voller Staub und am linken Knie arg zerrissen.
Sein Gesicht war schwarz von Schmutz und Ruß, so wie ihres zuvor. Er sah sie an. »Dachte mir schon, dass Sie noch da sein würden. Die Tür – sehen Sie, der ganze Rahmen ist verzogen. Es wird ein Albtraum sein, einen Handwerker zu finden. Dieser verfluchte Göring. Alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sehen völlig geschafft aus.«
    »Nicht schlimmer als Sie«, sagte sie trotzig.
    »Was ist denn mit Ihren Händen?« Er nahm sie und drehte sie um; seine eigenen waren mit einer Schmutzschicht überzogen. »Sie müssen was gegen diese Blasen tun. Irgendwo haben wir noch einen Rest Salbe.«
    »Möchten Sie eine Tasse Tee?«
    Er folgte ihr zur Küche. »Ist das Gas denn an?«
    »Nein. Aber ich habe daran gedacht, Feuer zu machen.«
    Er schüttelte den Kopf. »Keine Zeit. Hören Sie, lassen Sie uns rasch irgendwas essen und trinken. Ich muss wieder an die Arbeit. Und Sie müssen hier weg. Raus aus der Stadt, meine ich.« In der Küche legte er seinen Helm und die

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