Diktator
Aber sie jubelten und brüllten, während der Lastwagen über die zernarbte Straße holperte und sie herumwarf wie Spielzeugfiguren in einer Schachtel, und Ernst fand es unmöglich, nicht einzustimmen. Es war schierer Wahnsinn. Sie würden nicht einmal genug Treibstoff für die Rückkehr zur Küste haben. Aber vielleicht, nur vielleicht, würde dieser kühne Streich funktionieren, würden die englischen Abwehrkräfte zerstreut und die Schlacht um England gewonnen.
Doch nun näherten sie sich einer Kreuzung. Ein Maschendrahtzaun spannte sich darüber hinweg, verstärkt durch Stacheldraht und ein paar Panzersperren. Ernst rechnete damit, dass die Panzer das alles einfach aus dem Weg pusten und weiterfahren würden. Zu seiner Verblüffung bremsten sie jedoch mit einem Knirschen ihrer gewaltigen Getriebe, und auch sein eigener Transporter kam quietschend zum Stehen.
Ernst wechselte einen Blick mit Heinz Kieser. Der zuckte nur die Achseln.
Unteroffizier Fischer sprang auf die Straße, und Ernst folgte ihm. Der Zaun erstreckte sich nach links und rechts über die Fahrbahn und weiter in die Felder zu beiden Seiten. Eine Fahne, ein Sternenbanner, flatterte kühn an einem Mast, der sich hinter dem Zaun erhob. Ein einzelner Soldat mit einer automatischen
Waffe stand direkt vor der Mündung des ersten Panzers. Er war klein und stämmig, und sein Gürtel und seine Gurte waren schwer von Handgranaten und Munitionsstreifen. Seine Uniform sah zerknittert aus. Er kaute Kaugummi; offenbar hatte er keine Angst.
Am Zaun war ein säuberlich beschriftetes Schild angebracht. Ernst kniff die Augen zusammen, um es zu lesen:
LUCKY STRIKE BASE
SHALFORD
ACHTE US-ARMEE
SOUVERÄNES GEBIET DER VEREINIGTEN
STAATEN VON AMERIKA
BETRETEN VERBOTEN
»Scheiße«, sagte Unteroffizier Fischer. »Wir müssen zurück und weiter unten dran vorbeifahren. Selbst Guderian kann Amerika nicht aus eigener Initiative den Krieg erklären. Churchill . Dieser gewiefte Mistkerl hat garantiert irgendwas damit zu tun. Scheiße, Scheiße.«
Der amerikanische Soldat grinste. Auf Englisch rief er: »Kann ich euch helfen, Jungs?«
ZWEITER TEIL
GEFANGENER JUNI – DEZEMBER 1941
I
23. Juni 1941
An diesem Montagmorgen waren alle Familienmitglieder – Fred, Irma, Alfie, Viv – beim Frühstück versammelt. Die vier arbeiteten sich in der Küche des Bauernhofs schweigend durch Toast mit Rührei aus Eipulver, als Ernst mit seinem Geschenk hereinkam. Er legte es auf den Tisch, eine mit Hakenkreuzen bedruckte Pappschachtel, die nichts von ihrem Inhalt preisgab.
»Guten Morgen, Herr Obergefreiter«, sagte Irma. Sie stützte die Hände auf den Holztisch und drückte sich von ihrem Stuhl hoch. »Dasselbe wie immer? Eine Scheibe Toast?« Sie war in den Vierzigern und hochschwanger, mit umschatteten Augen und blutleerem Gesicht. »Kann sein, dass der Tee zu stark ist.«
Alfies Blick ruhte auf dem Geschenk. Er kaute auf gummiartigem Toastbrot herum und schaukelte mit den Beinen, so dass sein ganzer Körper in ruckartige Bewegungen versetzt wurde. Er war vierzehn, sah aber jünger aus, fand Ernst – mager und irgendwie permanent hungrig. »Was ist in der Schachtel, Ernst?«
»Gönn dem armen Mann erst mal sein Frühstück, Alfie.« Irma ging zum Herd.
»Ich hole den Tee«, sagte Vivien und stand gut gelaunt auf. Sie lief zum Waschbecken und spülte eine Blechtasse aus. Viv war ein Jahr älter als ihr Bruder. Sie trug ihre Schuluniform, Bluse, Rock, dicke, dunkle Strümpfe und klobige Schuhe. Ihre Mutter war eine recht gute Näherin, aber man sah die Einsätze aus Fallschirmseide, wo sie die Bluse ausgelassen hatte, als Viv gewachsen war.
Viv kam mit der Blechtasse zu Ernst. Das Getränk war ziemlich widerwärtig, eine Brühe aus mehrfach aufgekochten Blättern, an deren Oberfläche Milchpulverklumpen trieben. Sie beugte sich so nah zu Ernst, dass ein paar Strähnen ihrer rotblonden Haare sein Gesicht streiften.
»Danke.«
»Gern geschehen«, sagte sie auf Deutsch.
Alfie lachte. »Du bist eine richtige kleine Nutte, Viv. Bist du wirklich.«
»Ach, lass sie in Ruhe«, sagte Irma müde und stellte Ernst einen Teller mit einer Scheibe Toast und einem Berg halb flüssigem Rührei hin. »Reicht das, Herr Obergefreiter?«
»Ja, danke, Frau Miller.« Er schnitt demonstrativ ein Stück Toast ab und steckte es sich in den Mund. Dann wandte er sich an Viv. »Aber weißt du, du hättest dich nicht für die Schule fertigzumachen brauchen. Die fällt heute aus.«
Fred
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