Diktator
Triumphbogens Aufstellung nehmen, während ein Fotograf Bilder schoss und ein Wochenschau-Kameramann sein Stativ aufbaute und über ihre lächelnden Gesichter zu den mächtigen Beinen des Monuments schwenkte.
»Schaut sie euch an«, sagte Willis. »Sind sie nicht süß mit ihren kleinen Knien und ihren blank gewienerten Schuhen?«
»Ich hatte auch mal so ’ne Uniform«, sagte Stubbs. »Vor dem Krieg. Da war ich Pfadfinder.« Die Pfadfinderbewegung, von der man gedacht hatte, sie propagiere antifaschistische Werte, war in die Hitlerjugend überführt worden.
»Ich wette, du hast genauso hübsch ausgesehen wie diese Schätzchen«, rief Willis. »Hallo, ihr Kleinen. Wollt ihr ein paar Süßigkeiten?«
Die Jungen schauten sich nervös um. Ihr Lächeln verflog. Einige der Gefangenen lachten. Der SS-Mann starrte sie wütend an und führte die Jungen weg.
Ein Landwacht-Schläger kam zu Garys Gruppe. »Zurück an die Arbeit, ihr Arschlöcher.«
Willis entbot ihm den Parteigruß und hob seine Schaufel auf.
»Vielleicht bist du ja wirklich ’n beschissener Maulwurf, Farjeon«, sagte Stubbs. »Du bist verdammt noch mal zu vornehm für uns, du solltest in einem Offizierslager sein.«
»Ich war in Oflags. Zum Beispiel in einem in der Nähe von Canterbury.«
»Und warum bist du dann jetzt hier?«
»Ich hab den richtigen Vater. Mein Paps ist ein hochrangiger Beamter in Whitehall, oder vielmehr, er war es; ich glaube, er ist jetzt in York. Du wirst noch nie was von ihm gehört haben, Stubbs, aber in seinen Kreisen ist er ’ne große Nummer.«
»Du bist also ein Prominenter«, sagte Gary.
»Genauso wie du. Von uns gibt’s hier ’ne Menge. Wir sind in diesem Lager einfacher Bürger, weil sie uns in der Nähe der Küste behalten wollen. Und du gehörst vermutlich auch dazu, Stubbs, obwohl du so ein Banause bist.«
»Mein Vater ist bloß ein Bauer.«
»Ja, aber er ist auch ein hohes Tier in der Gewerkschaftsbewegung, nicht? Ich, ein Maulwurf? Was wäre das langweilig. Und außerdem, Stubbs, ist dir noch nie der Gedanke gekommen, dass unser Dünkirchen-Springinsfeld
hier mit viel größerer Wahrscheinlichkeit ein Maulwurf ist als ich? Immerhin bist du ein neutraler Ausländer, Gary. Du könntest dich an die Schutzmacht wenden und jederzeit hier rauskommen, wenn du willst.«
»Der Krieg ist noch nicht vorbei. Mein Krieg ist noch nicht vorbei.«
»Rache, ist es das?«
»Lass ihn in Ruhe«, sagte Stubbs. »Der Yank ist in Ordnung. Jeder hier drin bindet den Jerry ein kleines bisschen mehr, und das ist gut so.«
Willis grinste spöttisch. »Ja, ja, das sagt Danny Adams, damit ihr die Stacheln hochgestellt lasst.«
Gary stützte sich auf seinen Spaten und musterte Willis, bemüht, ihn zu verstehen. »Du bist immer so, was, Willis?«
»Wie denn? Die Schwuchtel vom Dienst? Ja, warum nicht? Ich passe doch gut zu euch, oder? Schließlich ist es hier wie auf der Privatschule, und da sind wir alle schwul. Das denkst du zumindest von mir, stimmt’s, Gary? Das ist das Klischee, das du auf meine Stirn gestempelt siehst.«
»Interessiert mich nicht die Bohne, wer oder was du bist«, erwiderte Gary.
»Ach, in Wirklichkeit spiel ich bloß rum«, sagte Willis. »Ich meine, was kann man denn sonst hier tun?«
»Wie wär’s denn mal mit’nem Scheiß-Fluchtversuch«, sagte Joe Stubbs.
»Also, das ist ja wohl der Gipfel der Langeweile,
den Handlanger für andere spielen und Pläne schmieden, Sachen klauen und horten, Tunnels graben, beim Appell Unfug machen, die Gorillas ärgern! Nee, das ist nichts für mich. Ich spiele rum, das ist alles.«
Möglicherweise war das die Wahrheit, dachte Gary. Im Stalag gab es einen Haufen ›Übergeschnappte‹, wie die Briten sie nannten, Männer, die ihre Gefangenschaft langsam in den Wahnsinn trieb. Für gewöhnlich manifestierte sich das in Manien – beispielsweise in einer Leidenschaft für exzessive Übungen – oder in hirnrissigen Fluchtversuchen; es gab aber auch plötzliche Stimmungsumschwünge, etwa eine manische Fröhlichkeit, die abrupt in Verdrossenheit und Depression zusammenstürzte. Er etikettierte Willis also fürs Erste als »Übergeschnappten«. Seine Neckereien und kleinen Grausamkeiten dienten keinem anderen Zweck als seiner eigenen Unterhaltung; für einen Gefangenen gab es keine solchen Zwecke. Trotzdem konnte er jedoch gefährlich sein, wenn es ihm wirklich gelungen war, Ben nahezukommen.
Jetzt hörte man anerkennende Pfiffe, und die Männer hielten erneut inne.
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