Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin
Vermeidung alles unbefangenen Genießens, so gänzlich aller eudämonistischen oder gar hedonistischen Gesichtspunkte entkleidet, so rein als Selbstzweck gedacht, dass es als etwas gegenüberdem ‹Glück› oder dem ‹Nutzen› des einzelnen Individuums jedenfalls gänzlich Transzendentes und schlechthin Irrationales erscheint.»
Der Historiker Sigmund Widmer schreibt dazu: «Reichtum und Wohlhabenheit der heutigen Staaten deckt sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, mit der Adaption von Zwinglis Arbeitsethos.» In anderen Worten: Wenn unsere Vorfahren sich die protestantische Arbeitsethik nicht zu eigen gemacht hätten, stünden wir heute ohne Gitarrenverstärker da, womöglich gäbe es noch nicht einmal Internet. Da liegt die Forderung nahe, wir hätten es ihnen gleichzutun, anstatt uns im gemachten Bett zu räkeln. Zum einen heiligt aber der wirtschaftliche Erfolg einer Idee nicht unbedingt alle Mittel. Immerhin haben die Römer auch den Aquädukt, das Dampfbad und die Zentralheizung zustande gebracht, ohne dass wir deshalb heute den Einsatz von Sklaven für das Nonplusultra der betrieblichen Organisation halten. Zum anderen hat die immense Steigerung der Produktivität seit Zwinglis Zeiten nicht so sehr mit Fleiß als vielmehr mit Nachdenken über geeignetere Arbeitsmethoden und -mittel zu tun. Versuchen wir daher lieber, das Gute an der protestantischen Einstellung zur Arbeit behutsam vom Schlechten loszulösen: Der Wunsch nach ständiger Verbesserung und die Aufmerksamkeit für Verbesserungsmöglichkeiten ist nicht dasselbe wie der Wunsch, sich zwecks größerer Gottgefälligkeit 18 Stunden täglich abzuplagen.
Weil das protestantische Arbeitsethos sich längst zu einem Bestandteil des Kapitalismus ausgewachsen hat, muss man nicht lange suchen, um seinen Geist auch im verpflichtenden Gesetzeswerk wiederzufinden. Außerhalb des unbezahlten Urlaubs existiert keine angemessene gesellschaftliche Einordnung für eine Arbeitspause wegen Lustlosigkeit oder einer dringenden zweijährigen Weltreise, man mussstattdessen Arbeitslosigkeit, Selbständigkeit oder gar Studententum vortäuschen, wenn man nicht gravierende Nachteile in Kauf nehmen möchte. Dem protestantischen Arbeitsethos zum Dank zählt die ebenso unnatürliche wie unermüdliche Konstanz auch in der Rentenversicherung absonderlich viel, denn eine Beitragsunterbrechung kann die Rente empfindlich mindern.
Man kann sich leicht vorstellen, dass der Zwingli in uns in Verbindung mit den heute üblichen Arbeiten zwischen Büro und Fabrikhalle uns überhaupt nicht mehr zur Besinnung kommen lässt, weil er das Erwerbsleben vierzig Jahre lang in Arbeit und Erholung von der Arbeit unterteilt. Noch dazu dient der «Erholungsurlaub» arbeitsrechtlich der Erhaltung der Arbeitskraft. Das Bundesurlaubsgesetz (§ 8) schreibt dem Arbeitnehmer vor: «Während des Urlaubs darf der Arbeitnehmer keine dem Urlaubszweck widersprechende Erwerbstätigkeit leisten.» Diese gesetzlich unterstützte Fixierung auf die konstante Leistungserbringung lässt kaum Zeit zum Nachdenken und für wirklich sinnvolle Tätigkeiten.
Die große Welle an Produktivitätsblogs, -websites und -ratgebern , die in den letzten zehn Jahren – vor allem aus Amerika – über uns hereingebrochen ist, zeigt, dass gerade ein uralter, schon seit der industriellen Revolution gehegter Arbeitgebertraum wahr wird: Mussten Arbeitnehmer früher noch beständig kontrolliert, zur Arbeit angehalten und ermahnt werden, nehmen sie es heute selbst auf sich, alles einzuüben, was der vermuteten Steigerung ihrer Produktivität dient. Abseits der protestantischen Irrwege ist auch die Arbeitskultur in Japan auf einem unschönen Weg. Selbstdisziplinierte Arbeitswut gilt dort als derart erstrebenswerte Eigenschaft, dass nicht selten Angestellte gezwungen werden müssen, ihren Urlaub zu nehmen. Die direkte Folge dieses Disziplinexzesses ist Karoshi, der Tod durch Überarbeitung,der seit rund zwei Jahrzehnten in Japan als gesellschaftliches Problem wahrgenommen wird.
Mit Zwingli und Calvin ist die Schweiz das Ursprungsland des deformierten Arbeitsethos im Westen. Gewissermaßen als Wiedergutmachung wurden dort inzwischen eine Reihe von Instrumenten eingeführt, die der Natur des Menschen entgegenkommen: Teilzeitarbeit auch in hochqualifizierten Jobs, munter zwischen 25 und 100 Prozent hin- und herskalierbar, ist anders als in Deutschland gesellschaftliche Normalität. In Schweden und Norwegen existiert ein
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