Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin
Diät zu halten. Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, dass die Welt um einen herum einem lästige Dinge abverlangt! Wer falsch parkt, muss sich nur vom Staat herumkommandieren lassen. Wer sich selbst herumkommandiert, hat bereits doppelt so viel Arbeit. Das Mindeste, was man für sich als Bürger im Staat der eigenen Persönlichkeit tun kann, ist daher, keine sinnlosen und undurchführbaren Gesetze zu erlassen.
Das Argument, eine bestimmte Verhaltensweise sei gesünder als andere, hat historisch gesehen andere Konditionierungsinstrumente abgelöst, mit deren Hilfe die Gesellschaft uns ein schlechtes Gewissen machen will. Während man früher versuchte, seine Mitmenschen durch den Hinweis auf die Gottgefälligkeit oder Sündigkeit einer Handlung zu Verhaltensänderungen zu bewegen, werden heute Gesundheitsargumente angeführt, um den Lebenswandel anderer Menschen in Misskredit zu bringen. Dabei fehlt etwa dem gegenwärtigen Schlankheitsideal die wissenschaftliche Begründung,denn zwischen Normalgewicht und Gesundheitsproblemen liegt ein sehr breiter Speckgürtel schlimmstenfalls ästhetisch beklagenswerter Kilos. Diverse kluge Menschen, darunter der Philosoph Michel Foucault, vermuten im Schlankheitsideal eine Verlagerung äußerer Kontrollmechanismen ins Innere des Menschen. Ein schlanker, sportlicher Körper macht für alle sichtbar, dass man nicht jeder Versuchung folgt, sondern sich erfolgreich selbst diszipliniert hat.
Aber wenn die schöne Kunst der Prokrastination mit Hilfe von Gesundheitsargumenten madiggemacht werden soll, können wir nicht tatenlos zusehen. Das Aufschieben von Plänen, so heißt es immer wieder, sei kein harmloser Spaß, sondern mit ernsten Gesundheitsgefahren verbunden, weil die Betroffenen mit Arztbesuchen und gesunden Verhaltensänderungen zu lange warteten. Die erwiesene Fähigkeit von LOBOs, unter Termin- oder anderem Druck ihren Pflichten doch noch einigermaßen nachzukommen, lässt allerdings darauf schließen, dass sie sich durchaus in die Arztpraxis bewegen, sobald es einen zwingenden Grund dafür gibt. Und ohne zwingenden Grund zum Arzt zu laufen ist weder dem Kontostand noch der Gesundheit zuträglich. Den Schäden durch Nichthandeln stehen Schäden durch unnötiges Handeln gegenüber – seit man beispielsweise die Hormonersatztherapie in den Wechseljahren reduziert, fallen in allen Industrieländern die Raten an neu festgestellten Brustkrebsfällen.
Der häufigste medizinische Vorwurf, den man Prokrastinierern macht, ist dabei, dass sie Früherkennungsuntersuchungen zu lange hinausschieben. Hauptgründe für die Nichtteilnahme an Krebsfrüherkennungsangeboten sind zwar tatsächlich Bequemlichkeit und Vergesslichkeit, aber 76 von 100 männlichen und 65 von 100 weiblichen Krebstoten sterben an Tumorarten, für die es bislang gar keine sinnvolle Früherkennung gibt. Und auch dort, wo es einegibt, liegt ihr Nutzen keineswegs auf der Hand. Im Juni 2003 war in der «Zeit» unter dem Titel «Vom Segen des Nichtwissens» zu lesen: «Plötzlich wird offen darüber diskutiert, dass allzu eifrige Kontrolle sogar mehr schaden als nützen kann. An der seit 1971 praktizierten Früherkennung von Darm-, Prostata-, Brust-, Haut- und Gebärmutterhalskrebs lässt sich demonstrieren, dass Nichtstun eine ernst zu nehmende Alternative ist. Früherkennung ist im Kern ein Tauschgeschäft: Man tauscht ein Risiko gegen ein Bündel anderer Risiken. Von 1000 Teilnehmern können bestenfalls einige wenige erwarten, dass Früherkennung sie vor einem vorzeitigen Tod durch einen Krebs bewahrt. Keine Frage, das ist ein sehr starkes Argument für Früherkennung. Doch dieser Gruppe stehen etwa gleich viele Teilnehmer gegenüber, bei denen Früherkennung die Gesundheit angreift, die sie eigentlich erhalten soll.» Ob Prokrastinierer krebsbedingt auch nur einen Tag früher sterben als gut organisierte Menschen, ist bisher mangels entsprechender Forschungsarbeiten unbekannt.
Unbestritten wäre es ganz gut, zweimal jährlich beim Zahnarzt zu erscheinen und hin und wieder seinen Blutdruck messen zu lassen. Wenn das nicht gelingt, wird man ein kariöseres und eventuell kürzeres Leben führen und sollte daher zum Ausgleich wenigstens nicht rauchen oder Motorrad fahren. Ist man Raucher, Motorradfahrer, Taucher und Arztbesuchvermeider, kann man sich immer noch darauf berufen, dass jeder Mensch das Recht auf selbstgewählte Risiken hat. Der Gesellschaft schadet man damit nicht, denn wer früher stirbt,
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