Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin
gewitzigt durch die Erfahrung, dass man die ersten Monate sowieso nur verplempert – statt des üblichen Jahres lediglich fünf Monate Zeit gegeben, in der Absicht, so unmittelbar in die Phase der Torschlusspanik einzusteigen. Im ersten Monat passierte gar nichts. Nach dem zweiten Monat war das Buch zehn Seiten lang, im dritten Monat kamen dreißig Seiten dazu, im vierten Monat weitere siebzig Seiten, und der fünfte Monat brachte heroische hundertvierzig Seiten. «Edwards Gesetz von Zeit und Aufwand» ist ein alter Witz, der das Phänomen beschreibt: Der Aufwand, den man in die Arbeit investiert, ist umgekehrt proportional zur verbleibenden Zeit. Je näher also das Ende heranrückt, desto mehr Arbeitswille stellt sich ein; bleibt einem nur noch ein Achtel der Zeit, bringt man leicht achtmal so viel Energie auf wie zu Anfang.
Dieses Verhalten angesichts einer Deadline scheint weit über Hardcore-LOB O-Kreise hinaus verbreitet zu sein, zumindest deuten darauf die Beobachtungen von Valentina Alfi, Giorgio Parisi und Luciano Pietronero hin: Die Physiker betrachteten das Anmeldeverhalten der Teilnehmer zweier naturwissenschaftlicher Konferenzen und fanden heraus, dassder «Anmeldungsdruck» bis zum Anmeldeschluss in Form einer bestimmten Kurve ansteigt. Die Autoren folgern daraus: «Der Grad der Übereinstimmung zwischen den Daten der beiden Konferenzen und unserem Modell legt nahe, dass es eine einfache, universelle Verhaltensweise im Angesicht einer Deadline gibt.» Etwa 75 Prozent der Teilnehmer melden sich erst in den letzten 25 Prozent der Zeit an. Wenn Naturwissenschaftler nicht zufällig einen prokrastinatorischen Sonderfall darstellen, lässt sich daraus folgern, dass fast alle Menschen angesichts von Deadlines ein ziemlich präzise berechenbares Aufschiebeverhalten an den Tag legen.
Bei Konferenzanmeldungen wie auch beim Bücherschreiben ist eine Deadline allerdings nicht unbedingt eine Deadline. Nach Ablauf des fünften Monats nahmen wir die in jedem Verlagsvertrag bereits fürsorglich eingebaute Verlängerungsmöglichkeit von vier Wochen in Anspruch, auf die vier Wochen folgte eine weitere Woche, auf die Woche noch zwei Tage. Laien würden hier vermuten, es wäre klüger, sich beim nächsten Mal einfach mehr Zeit zu nehmen. Das aber führt nur dazu, dass sich die anfängliche Aufschiebephase entsprechend ausdehnt. Wirklich produktiv genutzt wird nur das letzte Viertel bis Fünftel der Zeit. Deadlineverschiebungen im letzten Moment haben daher den Vorteil, dass sie die Zeit des effizienten Arbeitens durch einen einfachen Trick verlängern. Voraussetzung dafür ist allerdings eine glaubhafte, aber gleichzeitig flexible Deadline.
Eine solche Deadline zu finden oder zu konstruieren ist leider gar nicht so leicht. Jeder weiß, was von angeblich unumstößlichen Terminen zu halten ist. In Werbeagenturen spricht man längst von Deadline, Deaddeadline und Deaddeaddeadline, analog zur letzten, allerletzten und wirklich allerallerletzten Mahnung, was dazu führen kann, dass man vor der ersten Deadline kaum mit der Arbeit beginnt.Wichtig ist daher eine ausgewogene Balance zwischen kommunizierter Deadline, tatsächlich physikalischer Deadline («Mittwoch um zwölf Uhr legt das Boot ab») und den daraus entstehenden Konsequenzen.
Edward Yourdon beschreibt im schon erwähnten «Death March»-Ratgeber die beiden Verhandlungsspielchen «Doubling and Add Some» und «Reverse Doubling». Ersteres ist das, was jeder kluge Freiberufler oder Projektleiter tut, wenn er um eine Abschätzung der Kosten, des Personal- oder des Zeitbedarfs für ein Projekt gebeten wird: Er verdoppelt die realistische Schätzung und schlägt zur Sicherheit noch was obendrauf. Das Management oder der Auftraggeber kontert aus Erfahrung mit «Reverse Doubling» und halbiert die Angabe wieder. Jetzt sind alle zufrieden, es sei denn, die ursprüngliche Schätzung wurde von einem arglosen Neuling abgegeben, der gar nicht auf die Idee gekommen ist, seine Angaben zu verdoppeln. Diesem Phänomen begegnen wir in unterschiedlichen Verkleidungen überall im Arbeits- und sonstigen Alltag. Nach demselben Prinzip funktioniert das Einverständnis zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer beim Festsetzen von Deadlines: Der Auftraggeber lügt, die Deadline sei allerallerspätestens am ersten März, andernfalls müsse die ganze Unternehmenssparte verkauft werden, während in Wirklichkeit eine Abgabe im Dezember auch noch genügt. Der Auftragnehmer nickt ernsthaft
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