Dirty Old Town: Ein Wyatt-Roman (German Edition)
Sie stellte das Radio an, aber es war sieben Minuten nach neun, die nächsten Nachrichten gab es nicht vor zehn.
Die ganze Zeit ging ihr nur eins durch den Kopf: Wenn ihm klar wird, dass ich mich nicht blicken lasse, wird er quatschen. Sie an seiner Stelle täte es.
Der Mond glitt hinter die Wolken, kam wieder hervor, glitt wieder dahinter ... Khandi beugte sich nach vorn, übergab sich und würgte einen bitteren Faden Schleim hervor. Wie von Sinnen griff sie nach einem Stuhl, schleuderte ihn gegen die schwere Kochmaschine und beobachtete, wie er zerbrach. Sie war völlig außer sich vor Wut. Hatte nur den Wunsch, jemanden zu schlagen, zu treten, zu kratzen.
Aber man hatte Eddie weggesperrt, und außer der dumpfen, muffigen Luft in der Hütte seiner Tante war ihr nichts geblieben. Halbwegs wieder beieinander, analysierte sie ihr Gefühlsleben. Eine neue Erfahrung für sie. Normalerweise reagierte sie nur, wenn Gedanken und Gefühle sich einstellten. Dieses Mal ignorierte sie nicht, woher ihr Furor kam und wohin er sie möglicherweise dirigierte.
Aus ihrer Sicht hatte sie ein Recht darauf, völlig durchzudrehen. Zunächst einmal hatte sie große Pläne gehabt, was diese Wertpapiere betraf, hatte beabsichtigt, die Furneaux’ ein zweites Mal damit zu erpressen, und sich dann einen Käufer suchen wollen. Sie hätte das vielleicht mit Eddie besprechen sollen, andererseits hätte Eddie auch eine bessere Antenne für sie und ihre Vorstellungen haben können. Aber so hatte er das versaut, was eine Lizenz zum Gelddrucken hätte werden können, dieser süße, liebenswerte Schwachkopf, der so versessen war auf Fotzen.
Und überhaupt, was sollte das mit den zwei Morden? Wahrscheinlich irgend so ein Machoscheiß. Um zu beweisen, was für ein eiskalter Killer er war, ein knallharter Typ.
Was für eine Kacke: Sie hätte ihm zeigen können, was knallhart bedeutet. Völlig außer sich angesichts ihres Verlustes, kreischte sie los und warf eine Bratpfanne, die mit dem Griff voran in der dünnen Wand stecken blieb. Als sie Eddie vor ihrem geistigen Auge sah, der wie ein Fünfzehnjähriger auf seinem Motorrad die große Show abzog, riss sie die Pfanne aus der Wand und demolierte damit einen weiteren Stuhl.
Eine innere Stimme sagte klar und deutlich: »Eddie wird auspacken, wird seine eigene Haut retten, weil er schwach ist und dich nicht liebt.«
Also besann sich Khandi wieder auf Aktivität, wirbelte umher, versuchte, sämtliche Fingerabdrücke in der Hütte zu entfernen, stopfte das Geld in einen Rucksack und fuhr auf der unbefestigten Straße Richtung Yarra Junction. Sie hatte vor, die Nacht durchzufahren, so weit weg wie möglich, immer die Küste im Osten entlang bis zu den Stränden nördlich von Cairns, um sich dort unter die Gammler am Strand zu mischen.
Sie hielt an der zentralen Straßenkreuzung des Ortes, saß auf der vibrierenden Maschine, ihre Füße in den Stiefeln rechts und links vom Fahrgestell. Khandi eine Gammlerin am Strand? Sandalen, Sarong, Glasperlen und Sonnenbräune? Vergiss es! Sie gehörte der Nacht, gehörte auf das neonbeleuchtete Straßenpflaster, an die Ecktische der Kneipen.
Sie gab Gas, fuhr eine kurze Strecke, hielt wieder an. Sie sollte ein paar Tage von der Bildfläche verschwinden. Ihre Möglichkeiten sondieren.
Als ihr Blick auf einen Pub fiel, auf eine Tafel mit den Worten »Warme Küche«, wurde ihr bewusst, mein Gott, ich sterbe vor Hunger. Sie machte einen Schlenker, fuhr auf den Hof hinter dem Junction Arms, stieg vom Motorrad und stapfte in den Pub. Nachdem sie ihren Helm auf einen kleinen Tisch in der Ecke gelegt und sich den Rucksack über die Schulter gehängt hatte, ging sie quer durch den Raum und studierte die Menütafel.
»Wann macht die Küche dicht?«
»In fünf Minuten«, sagte die junge Frau hinter dem Tresen, völlig in ihre Kassenbelege vertieft.
»Weißfisch und Chips«, sagte Khandi mit einem Knurren, damit die Bedienung aufmerksam wurde. Und sie wurde aufmerksam, blinzelte einmal, dann verschlang sie Khandi mit ihrem Blick.
»Tina« stand auf ihrem Namensschild. Sie hatte Khandis Größe und Figur, doch dann war auch schon Schluss mit der Ähnlichkeit. Bieder, durch und durch! Gott, Hosen aus Viskose, dazu ein weißes, kurzärmeliges Hemd mit dem Schriftzug »Junction Arms« quer über der Tasche. Ordentliches, kurz geschnittenes Haar. Einen schlichten Ring, eine schlichte Halskette und kleine Ohrstecker. Khandi sah ihr direkt ins Gesicht, sagte: »Hi, Tina«,
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