Diva (DE)

Nebel, oder eigentlich eine Pilzwolke aus weißem Zigarettenrauch, steigt von Lilly Hellmans Sitz in der Mitte der fünften Reihe auf; neben ihr sitzen Michael Curtiz und Sinclair Lewis . Die Anzeigetafel auf der West Forty-seventh Street wirbt bereits für Bedingungslose Kapitulation mit Katherine Kenton und George Zucco in den Hauptrollen. Musik und Text von Jerome Kern und Woody Guthrie . Vor dem Bühneneingang werden dicke Stapel Hochglanzprogrammhefte von einem Lastwagen der Druckerei abgeladen. Hinter der Bühne probt Eli Wallach als Howard Hughes ein paar Handgriffe im Cockpit einer originalgetreuen Balsaholz-Attrappe der Spruce Goose .
    Der Vorhang fällt nach dem ersten Akt, die Tänzerinnen schlüpfen für den Untergang der USS Indianapolis zu Beginn des zweiten Akts eilig in ihre paillettierten Hai-Kostüme. Ray Bolger als Franklin Delano Roosevelt bereitet sich auf seinen Tod durch kongestives Herzversagen vor. John Mack Brown als Harry Truman präpariert sich für die Amtsübernahme, wobei Ann Southern als Margaret Truman einen kleinen Gastauftritt haben wird.
    Mitten in dem Meer leerer Sitze sitzen Terrence Terry und ich in der Mitte der zwanzigsten Reihe, verschanzt hinter unseren Paketen und Bloomingdale -Tüten und diversen Thermoskannen .
    In der zwölften Reihe rechts sitzt Webster Carlton Westward III und lässt Miss Kathie nie aus dem Blick seiner hellbraunen Augen. Die breiten Schultern nach vorn gebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestemmt, schiebt er sein amerikanisches Gesicht ihrem Licht entgegen.
    Näher als Reihe fünfzehn wirken Miss Kathies gefärbte Haare starr wie Draht. Ihre Gesten zittrig und verkrampft, ihr Körper vor Angst und Sorge zu etwas geschrumpft, das Louella Parsons eine »Lippenstift-Stiftfigur« nennen würde. Trotz der ständigen Morddrohung weigert sie sich, die Polizei einzuschalten, aus Furcht, sie könnte von W. H. Mooring in Film Weekly oder Hale Horton in Photoplay gedemütigt und als schrullige Alte karikiert werden, die sich in einen hinterhältigen Gigolo verknallt hat. Sie bewegt sich eindeutig zwischen Szylla und Charybdis : Entweder wird sie getötet und von Webb in Buchform gedemütigt, oder sie bleibt am Leben und wird von Donovan Pedelty oder Miriam Gibson in der Zeitschrift Screen Book der Lächerlichkeit preisgegeben.
    Während die Bühnenarbeiter die Gipsfelsen von Iwojima gegen den Leinwandrumpf der zum Untergang verurteilten Indianapolis austauschen, mache ich mir Notizen. Die Füllfeder folgt kratzend meiner Handschrift, Zeile um Zeile, als ich Pläne und Intrigen zur Rettung meiner Miss Kathie entwerfe.
    Terry beobachtet Webster, den Matiné-Idol-Umriss von Webbs amerikanischem Profil, und fragt, ob wir ein neues Mordkomplott entdeckt haben.
    Mitten im Satz und ohne mit Schreiben aufzuhören ziehe ich die neuesten Seiten von Sklave der Liebe hervor und werfe sie Terry in den Schoß. Diese neueste Fassung habe ich heute früh in Websters Koffer gefunden, erzähle ich ihm.
    Terry fragt, ob ich für die Premiere der Show nächste Woche eine Eskorte bestellt habe. Falls nicht, könne er zum Stadthaus kommen und mich abholen. Seine Augen fliegen über die getippten Seiten, und dann fragt er, ob Miss Kathie diese Version ihres Ablebens schon kennt.
    Ich schlage in meinem Notizbuch eine neue Seite auf, schreibe weiter und antworte: Ja. Deswegen zittert ihre Stimme so.
    Er späht über die Sklave-der-Liebe -Blätter nach meinen Notizen und fragt, was ich da schreibe.
    Die Steuererklärung, sage ich. Ich zucke die Achseln und sage, ich beantworte die Briefe von Miss Kathies Verehrern. Prüfe ihre Verträge und Investitionen. Nichts Besonderes. Nichts allzu Wichtiges.
    Und Terry liest aus dem neuen Finale von Miss Kathies Lebensgeschichte vor: »› Katherine Kenton hat es nicht gewusst, aber die japanischen Yakuza sind zu Recht weltberühmt als erbarmungslose, blutrünstige Mordgesellen …‹«

2. AKT, ZEHNTE SZENE
     
    »›Ein Yakuza-Killer‹«, liest die Stimme von Terrence Terry , »›kann eine Exekution in weniger als drei Sekunden durchführen …‹« Wir blenden über auf eine Straße im Nebel. Die Traumsequenz-Doubles für Miss Kathie und Webster machen einen Schaufensterbummel durch die Stadt, der Bürgersteig ist menschenleer und golden überstrahlt vom Sonnenlicht einer magischen Stunde. Ob es die Zeit der Morgen- oder der Abenddämmerung ist, ist nicht zu sagen. Das geschmeidige Pärchen verweilt vor den Auslagen, Miss Kathie mustert