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Diverses - Geschichten

Diverses - Geschichten

Titel: Diverses - Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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war. Kein Wunder, dass er die Gefahr erkannte, sah er doch ständig junge Männer, die nicht mehr dorthin zurückkehrten, wohin sie gehörten.
    Sascha seufzte. Eigentlich hätte er Kalle schon längst erwartet, und im Grunde fragte er sich auch, wo ihre Eltern blieben. Nicht dass er sie wirklich vermisste, aber zum Zeitpunkt von Kalles Ankunft, dachte er doch, dass sie sich zumindest im Haus aufhalten sollten.
    Doch auch ohne ihre Anwesenheit ließ die Spannung sich geradezu mit Händen greifen. Sascha fühlte sie, wurde er der geduckten Haltung der Angestellten ansichtig, die durch die Flure eilten, hastig noch einen letzten Schliff an die Dekoration anlegten, ein weihnachtliches Bukett geschmackvoll in der Ecke platzierten oder mit Staubtuch und Pinsel zum wiederholten Mal einen bereits glänzenden Bilderrahmen abstaubten.
    Sascha wusste sehr gut, dass gerade während der Feiertage die Nerven seiner Eltern nur allzu leicht blank lagen, und ihre Explosionen, wenn sie nicht gerade ihn selbst trafen, doch meistens mit der Entlassung eines oder mehrerer Angestellten endeten.
    Im Grunde sollte er also eigentlich froh sein, dass sie ihm noch einen Augenblick der Ruhe vor dem Sturm gönnten, bevor sie wieder alles durcheinanderwirbelten, ihre Forderungen stellten und vor allem Kalle in Beschlag nahmen. Dann hielten sie ihn von Sascha fern, bis dieser die Sehnsucht nicht mehr ertrug, und den anderen in sein Schlafzimmer verfolgte, ins Bad oder nur irgendwohin, wo er ihn einen Moment für sich alleine haben konnte.
    Sascha hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich dafür zu genieren.
    Doch etwas war an diesem Tage anders. Etwas stimmte ganz und gar nicht. Und Sascha konnte nicht greifen, was es war.
    Nicht nur die Stille im Haus lastete schwer auf seiner Seele, auch die frühe Dunkelheit, die sich über die Welt senkte, erschien ihm als Vorbote eines größeren Unheils, an das zu denken er sich weigerte.
    Lieber gedachte er des Wiedersehens mit seinem Bruder. Wie immer wartete er an seinem Fenster, beobachtete die Auffahrt und fühlte sein Herz klopfen in Erwartung des ersten Aufblitzens der hochgewachsenen Erscheinung, die mit eleganten Bewegungen aus der Limousine stieg, und deren erster Blick wie ferngesteuert als erstes in die Höhe ging, zu Saschas Fenster.
    Kalle wusste, dass er ihn dort oben erwarten konnte, und wusste auch, wie sehnsüchtig Sascha auf das erste Lächeln wartete, das der Bruder ihm schenkte.
    Er lehnte seine Stirn gegen die Glasscheibe. Die kühle Oberfläche fühlte sich angenehm an gegen seine erhitzte Haut.
    Irgendetwas stimmte nicht. Trotz der Wärme, die Nervosität in ihm hochsteigen ließ, spürte Sascha einen Schauer, der seine Wirbelsäule herab rieselte.
    Inzwischen sollten sie alle längst hier sein. Kalle ebenso wie seine Eltern. Er konnte und wollte sich nicht ausmalen, was ihnen dazwischen gekommen war. Sascha schluckte, und dann fuhr er mit einem erschrockenen Aufschrei zusammen, als das Telefon klingelte, schrill und unangenehm in der Stille.
    Er lauschte der Stimme des Mädchens, hörte ihre aufgeregte Antwort, auch wenn er die Worte nicht verstehen konnte. Sascha blieb wie festgewachsen an der Scheibe stehen, und schloss die Augen. Er wollte es nicht wissen.
    Ihre Schritte näherten sich seiner Tür und Sascha rührte sich nicht, als sie klopfte. Vielleicht ging sie wieder, wenn er sich nur still genug verhielt.
    Doch sie ging nicht. Sie klopfte wieder. Und dann hörte er ihre Worte, und obwohl er versuchte, seinen Ohren vor diesen zu verschließen, drang ihr Sinn doch unerbittlich in sein Bewusstsein.
    „Es ist Ihr Bruder“, sagte die Stimme wie von Ferne, als wäre sie unwirklich, so wie Sascha hoffte, dass sie es sei.
    „Er… er wurde im Einsatz verletzt.“ Ihre Stimme zitterte. Natürlich zitterte diese, dachte Sascha zusammenhanglos. Sie liebte Kalle. Jeder liebte Kalle.
    „Er lebt“, fuhr sie fort. „Aber es ist ernst. Ihre Eltern warten bereits im Krankenhaus. Sie lassen ihn einfliegen und … und werden Ihnen weiteres mitteilen, sobald er eingetroffen ist.“
    Sascha drehte sich um mit geschlossenen Augen. Er fühlte sich, als befände er sich in Trance. Seine Lippen waren taub. Er konnte sie nicht bewegen, um zu antworten. Und dann hörte er, wie ihre Schritte sich wieder entfernten, fraglos um die Neuigkeit im Haushalt zu verbreiten.
    Es fühlte sich an, als verließe Sascha jede Kraft, jede Spannung des Körpers, als er in sich zusammensank, bis er hart auf dem

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