Diverses - Geschichten
Die meiste Zeit war er sich durchaus bewusst, welch ein Glück er hatte, nicht in das Schema gepresst zu werden, in das der andere sich zwingen musste.
Ein Kopfschütteln und ein skeptischer Blick auf Saschas schlaksige Gestalt und die ungebärdige Frisur hatten ausgereicht, um jeden Gedanken an Internat, Militärschule oder gar eine Karriere als Soldat und Offizier aufzugeben. Und Sascha war sich trotz aller Erfolge und des Lobes, das Kalle einfuhr, doch sicher, dass sein Bruder ihn im Stillen um die Freiheit beneidete, die er genoss.
Auch wenn er es nicht zugeben konnte, so las Sascha doch in Kalle wie in einem offenen Buch. Und seine gelegentlichen Blicke oder unangebracht spitzen Bemerkungen was Saschas Schullaufbahn anging, erzählten ihm mehr als deutlich von Kalles Gefühlen.
Und das war nur eines der Dinge, die Sascha mit dem Bruder an diesem Weihnachten klären wollte, nur eines.
Hauptsächlich vermisste er Kalle schmerzlich. Er war nun alt genug, um sich einzugestehen, was er fühlte, alt genug, um zu erkennen, dass die Liebe und die Bewunderung, die er für Kalle empfand nicht verschwinden würde. Nicht von selbst.
So wenig er auch verstand, dass Kalle sich verpflichtet fühlte, an Kriegseinsätzen teilzunehmen, so sehr er seine martialische Haltung auch verabscheute, so groß war auch seine Angst.
Sascha verstand sehr gut, was Begriffe wie Krisengebiet oder Sondereinsatz bedeuteten. Jedes Mal, wenn er eine Andeutung in dieser Richtung aufschnappte, verbrachte Sascha seine Nächte mit grauenvollen Träumen, aus denen er regelmäßig schweißgebadet aufwachte, und die ihm alle nur ein Bild zeigten.
Kalle im Kampf. Kalle, wie er verletzt wurde, blutete, wie er sein Leben aushauchte. Und jedes Mal verfolgte ihn Kalles sterbender Blick über weite Stunden des Tages, mindestens so lange bis er sich vergewissern konnte, dass der Bruder heil und am Leben war, dass seine Sorgen unbegründet und seine Ängste grundlos waren.
Deshalb würde er Kalle dieses Mal festhalten. Er würde sich an ihn klammern und ihn nicht mehr loslassen, bis dieser ihm versprach, mit dem Unsinn aufzuhören.
Soviel schuldete er ihm. Sascha sagte sich diese Worte immer wieder vor. All die Geburtstage, die der Bruder versäumt hatte, all die Briefe, die er unbeantwortet ließ, all die Anrufe, die er abgewürgt hatte mit dünnen Entschuldigungen, für die er sich im Nachhinein mit Sicherheit selbst schämte. Zumindest glaubte Sascha fest daran, dass in Kalle Schuldgefühle sitzen mussten, die er für seine Zwecke anzapfen konnte. Zum einen, um ihn von der sinnlosen und nicht weniger zerstörerischen als selbstzerstörerischen Tätigkeit abzuhalten. Zum anderen, um den Bruder einfach zu retten, vor sich selbst und seinen Zielen und vor der Gewalt, der er sich täglich aussetzte.
Es war allerhöchste Zeit. Sascha war sich sicher, nicht noch so ein Jahr ertragen zu können. Ein Jahr voller ständiger Ungewissheit und Albträumen, die ihn dazu trieben, sich in Friedensbewegungen zu engagieren, gegen die militärische Einmischung seines Landes zu protestieren, unabhängig davon, wie sehr dieses Verhalten den Vater gegen ihn aufbrachte.
Und Kalle selbst?
Er war intelligent. Sascha war sich sicher, dass auch Kalle irgendwo den Denkfehler erkannte, der ihn dazu trieb, so beherrscht seine Pflicht zu erfüllen.
Sascha konnte sich nicht vorstellen, dass Kalle dies freiwillig tat, dass er die hohlen Gründe glaubte, welche die Riege patriotischer Führungspersönlichkeiten ihm vorbetete.
Nein, Kalle tat es für ihren Vater, weil dieser es wünschte. Und Sascha hoffte inständig, dass er ausreichend Einfluss auf seinen Bruder ausüben konnte, um ihn von diesem Wunsch abzubringen.
Denn dass der Ältere ihn liebte, stand außer Frage.
Kalle versuchte es zu verbergen, als handelte es sich um eine Schwäche, die er nicht zugeben wollte oder durfte. Und doch bemerkte Sascha bei jedem ihrer Wiedersehen, wie Kalles Augen aufleuchteten, wenn er ihn erblickte, wie ein Strahlen von ihm auszugehen schien, das weder seine Mutter noch sein Vater noch irgendjemand anderes in ihm erwecken konnte.
Wenn Kalle ihn an sich zog, und Sascha sich gegen den Größeren schmiegte, dann hörte er den leisen Seufzer der Erleichterung. Fast als hätte Kalle sich ebenfalls Sorgen um ihn gemacht, um Saschas Wohlergehen und als sei er froh, ihn gesund und im Ganzen wiederzusehen.
Auch dafür machte Sascha die Gewalttätigkeiten verantwortlich, denen Kalle ausgesetzt
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