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Diverses - Geschichten

Diverses - Geschichten

Titel: Diverses - Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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mehr, als sie es gewohnt war.
    Dabei wunderte Frau Klein sich häufig. Im Grunde war es das Einzige, das sie hingebungsvoll und wiederholt tat.
    Nach ihrer eigenen Ansicht handelte es sich dabei um eine Fähigkeit, die der Menschheit in zunehmendem Maße verloren ging, doch welche durchaus unerlässlich war, um sich einen wachen Geist und damit die innere Jugend zu erhalten.
    Auch konnte es nicht schaden, sich mehrfach über ein und dasselbe Geschehen zu wundern, so wie über das alljährlich wieder auftretende Phänomen der urplötzlich hereinbrechenden Dunkelheit, die unmittelbar und vollkommen ohne jede Vorwarnung auf die langen und angenehmen Sommerabende zu folgen schien.
    Doch trotz ihres großen Erstaunens ließ sich nicht leugnen, dass der Herbst auch in diesem Jahr wieder Einzug hielt, dass die Tage kürzer und kälter, die Bäume kahler, die Welt ein Stück grauer wurde.
    Frau Klein seufzte.
    Überhaupt nahm die Anzahl ihrer Seufzer mit Beginn dieser Jahreszeit deutlich zu.
    Das war einmal anders gewesen, damals, als sie noch eine Familie um sich hatte, als jeder Herbst angefüllt war mit Gemütlichkeit, Kerzenschein und den hektischen Vorbereitungen auf das Weihnachtsfest. Frau Klein war gewohnt, mit dem Auftauchen der ersten Lebkuchen in den Supermärkten das Fest gewissenhaft einzuläuten.
     
    Doch nun war alles anders.
    Sie wanderte durch die hektisch-schmutzigen, noch ungeschmückten Straßen, spürte, wie sie Schritt für Schritt tiefer sank, in der wachsenden Menge unterging.
    Denn dass nicht nur die Menge wuchs, sondern auch die Bestandteile wuchsen, aus der sie sich zusammensetzte, war ein weiteres Phänomen, über das Frau Klein nicht aufhören konnte, sich zu wundern.
    Schien sie doch Jahr für Jahr selbst zu schrumpfen, während die Menschen um sie herum zweifellos immer größer wurden, zu groß, um sie noch wahrnehmen zu können, selbst, wenn sie es noch gewollt hätte.
    Junge Männer, deren Köpfe in den Himmel ragten, schlanke Frauen, die ihre Länge unverständlicherweise auch noch betonten, indem sie auf gefährlich schmalen Stiletto-Absätzen balancierten. Selbst die Kinder schienen auf sie herabzusehen aus der stolzen Höhe ihrer modernen und funktionstüchtigen Transportmittel. Ob getragen, geschoben, oder im Thronsitz ihrer glänzend, metallenen Fahrräder, die sich, während halsbrecherisch, artistischer Meisterleistungen, durch die Gefahren des Großstadtverkehrs schlängelten.
    Doch eigentlich war es alles andere als merkwürdig, eigentlich trug das Phänomen doch seine eigene, unmissverständliche Logik in sich selbst.
    Natürlich wuchs die Welt um Frau Klein herum in absurde Richtungen, nahm unsinnige Formen und Gestalten an, suchte Wege, die nicht die ihren waren.
    Nicht die ihren, da sie nicht wahrhaftig, nicht ehrlich, da sie leer und hohl und fern, weit von jeder Wirklichkeit, weit von den Wünschen verliefen, die jeder Mensch tief in sich trug, doch im Rausch der vorbeifliegenden Zeit vergaß.
    Weit davon entfernt, worauf es ankam, von dem Ursprung, der winzig, der beinahe unsichtbar sich in der Sicherheit, die sich ihm bot, versteckte.
    Wege, die in die Irre führten, die das Kind, das sich durch neues, unerprobtes Territorium kämpfte, von seinem Ziel ablenkten.
    Doch nun nicht mehr
    Frau Klein lächelte, als eine vereinzelte Schneeflocke sich keck auf ihre Nase setzte.
    Es war nicht mehr nötig, sich zu wundern, gab keinen Grund mehr für ihre Seufzer.
    Sie wusste es besser.
    Die Wahrheit lag im Kleinen, die Erkenntnis dort, wo andere nicht hinsehen können, dort, wo sie niemand erwartet, in dem winzigen Funken, der im Herzen brennt.
    * * *
     Hochmut kommt vor dem Fall
     
    Hochmut kommt vor dem Fall. Das hätte er sich auch vorher denken können.
    Da hatte er sein Leben im Dienste der Allgemeinheit verbracht, und nun war das die Quittung. Eingesperrt, bloßgestellt, einer Öffentlichkeit zur Belustigung preisgegeben. Objekt eines verachtenswerten Schauspieles, das kein Erbarmen, keine Gnade, kein Gefühl kannte.
    Sein Leben hatte er der Gemeinschaft der menschlichen Lebensformen gewidmet, all den lebenden, atmenden Wesen, die sich nicht selbst verteidigen, denen es nicht gegeben war, für ihre Rechte selbst einzutreten.
    All sein Wissen, all sein Können hatte er denen zur Verfügung gestellt, die darauf angewiesen zu sein schienen.
    Doch nun das!
    So dankten sie es ihm, diese Schmarotzer, diese Faulenzer in ihren Wohnzimmersesseln.
    Selbst seine eigene Familie, seine

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