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Diverses - Geschichten

Diverses - Geschichten

Titel: Diverses - Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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zur Arbeit ging, gab es Zeit genug, die Treppengitter anzuschrauben, Ecken, Kanten und die Steckdosen zu sichern. Die spöttischen Bemerkungen Daniels am Abend würde sie leicht mit einem Glas Wein besänftigen können. Ihr Lächeln weitete sich zu einem befreiten Lachen. Was für ein Glück sie doch mit diesem Mann hatte, ein Glück, von dem sie schon seit langem nicht mehr gewagt hatte zu träumen. Und sie wusste, wie sie ihn zu nehmen hatte. Er war, wenn sie es richtig anstellte, Wachs in ihren Händen.
     
    Genau in diesem Moment kam er die Treppe hinunter, wie jeden Morgen perfekt mit Anzug und Aktentasche und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. 
    “Lass mich dir helfen”, flüsterte sie in sein Ohr und richtete ihm die Krawatte, die er ohne sie einfach nicht richtig binden konnte.
    “Danke Liebling”, murmelte er und setzte mit einem Blick auf Mathilda hinzu: “Ich freue mich so, dass du sie bei dir hast. Habt einen schönen Tag, meine Damen!” Er küsste sie noch einmal, und das Haus war wieder still.
    Das Kind sah ihm mit großen Augen hinterher, blieb aber unbeweglich sitzen.
    Es war wirklich schön, sie hier zu haben.
     
    Schon lange Zeit vor ihrer Begegnung mit Daniel, kaum zu glauben, dass dieser Tag erst wenige Monate her sein sollte, hatte Charlotte gewusst, dass sie keine Kinder bekommen konnte, und sich auch damit abgefunden. Aber das kleine Mädchen bei ihr brachte wieder eine Unmenge Erinnerungen hervor, die sie für immer verschüttet geglaubt hatte.
    Denn eigentlich war sie es gewesen, die ihren Bruder aufgezogen, ihn gefüttert und gebadet hatte. Später brachte sie ihn zur Schule und noch später zu Verabredungen. Ihr Vater war praktisch nie zu Hause gewesen, und ihre Mutter hatte sich mit Tabletten und Alkohol darüber hinweggetröstet. Deshalb war es an Charlotte gewesen, die Elternrolle zu übernehmen. Sie schüttelte den Kopf bei dem Gedanken daran, wie viel sich seit dem verändert hatte.
     
    Oder es lag daran, dass sie älter und ängstlicher geworden war? Aber sie konnte sich nicht daran erinnern, dass es für Kai Gitter an Herd oder Treppe gegeben hatte, ganz zu schweigen davon, dass man daran gedacht hätte, Reinigungsmittel oder scharfe Gegenstände aus dem Weg zu räumen. Eigentlich war es ein Wunder, dass er seine Kindheit überlebt hatte. Sie hatte damals sicher nicht jeden seiner Schritte überwacht, als Teenager genügend andere Dinge im Kopf gehabt.
    Sie strich sich das rotbraun getönte Haar aus der Stirn und versuchte dadurch, die Unsicherheit zu vertreiben, die sie wie ein Windstoß zu erschüttern drohte. Was für ein Unsinn! Sie würde dafür sorgen, dass auch diesem Kind nichts passierte. Immerhin ging es um ihre Nichte. Immerhin ging es um ihre einzige Nichte, und sie würde es niemals zulassen, dass diesem kleinen Engel etwas zustieße. 
     * * *
     
    Gefangen
     
    “Philip, bist du das?”
    “Ist es dir nun endlich gelungen!”
    “Wovon redest du?”
    Robert wand sich in seinen Fesseln, versuchte mit seinem Blick die Dunkelheit zu durchbohren, konnte jedoch nicht mehr als den Umriss eines hochgewachsenen Menschen erkennen.
    Und doch war der Anblick vertraut, beruhigend, verheißungsvoll. Er fühlte sich, allein durch die Anwesenheit einer zweiten Seele in dieser dumpfen Leere, getröstet.
    “Ich rede davon, dass es doch genau das ist, was du immer gewollt hast.”
    Die Gestalt bewegte sich, schien in seine Richtung zu schweben, näherte sich stetig, bis schwarze Augen auf ihn hinunter starrten.
     
    “Was soll ich gewollt haben”, stieß Robert hervor. Sein ganzer Körper schmerzte, sein Hals brannte, seine Nervenbahnen standen in Flammen. Mit jeder Faser sehnte er sich aus diesem Krankenbett heraus, sehnte sich danach dieser abgrundtiefen Erschöpfung ein Ende machen zu können.
    Philip legte ihm die Hand auf die Stirn. Die Hand war kühl und beruhigend. Die Berührung sandte Strahlen aus, sanfte Strahlen, die den Schmerz linderten, und ihm einen erleichterten Seufzer entlockten.
    “Du wolltest doch sterben”, flüsterte Philip. “Das wolltest du doch, solange wir uns kennen.
    “Ich...” Seine Lippen waren mit einem Mal taub, unbeweglich, unfähig die Worte zu formen, die ihm durch den Sinn gingen.
    “Bin ich...? Bist du...? Er dachte es mehr, als dass er es aussprach.
    “Ich bin!” Ein Lächeln umspielte Philips Mund, wärmte die Luft um ihn, senkte Frieden in sein Herz.
    “Aber was ist mit dir?”
    “Ich weiß es nicht”, stammelte Robert.

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